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Inspiring. Circus. Arts.

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Varieté und Revue - eine Spurensuche in Paris und Leipzig

Die Varieté-Revue "Rouge" entführt in die Künstlerwelt von Paris. (c) Krytallpalast Varieté
Die Varieté-Revue "Rouge" entführt in die Künstlerwelt von Paris. (c) Krytallpalast Varieté

Es wurde schon viel geschrieben und nachgedacht über die Ursprünge des Zirkus, über seine Spielarten und Definitionen. Interessanterweise spielt diese allgegenwärtige Identitätsdiskussion beim Varieté dagegen kaum eine Rolle. Vielleicht liegt es daran, dass das vor wenigen Jahren begangene 250-jährige Jubiläum des modernen Zirkus viel historisches Interesse geweckt hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Varieté die Vielfalt bereits im Namen trägt und man von ihm keine konsistente ästhetische Entwicklungsrichtung oder Abgrenzung von angrenzenden Genres erwartet.


Dass es sich dennoch lohnen kann, sich mit den Wurzeln dieser Form zu befassen, zeigt Urs Jäckle, der künstlerische Leiter des Leipziger Krystallpalast-Varietés, mit seiner aktuellen Showproduktion „Rouge – eine Varieté-Revue“. Varieté und Revue – zwei Formen er Unterhaltungskunst, die einen gemeinsamen Ursprung haben, finden hier wieder zusammen. Und den Ort dieses Aufeinandertreffens legt Urs Jäckle mit Bedacht nach Paris. Nicht nur, weil das zugleich Assoziationen mit legendären Namen wie dem Moulin Rouge, dem Lido oder dem Crazy Horse weckt, sondern weil sich hier der historische Kreis schließt. Denn im 19. Jahrhundert war es Paris, wo erstmals der Begriff „Revue“ im Zusammenhang mit öffentlichen Darbietungen zur Unterhaltung fiel. So soll dieser Artikel kein typischer Showbericht sein, sondern eher anhand der Entstehung von „Rouge“ einen Einblick in die Revue und ihre Verbindungen zum Varieté geben.  


Von den 1830er-Jahren an präsentierten die Pariser Volkstheater Jahresendrevuen. Dies waren „Stücke mit versteckten Kammern, in denen der Autor den Zuschauern alle mehr oder weniger wichtigen Ereignisse des vergangenen Jahres vor Augen führte“, wie es Romain Piana in seinem Buch „La revue théâtrale de fin d'année en France au XIXe siècle“ beschreibt. [1] In einer Zeit, in der es noch keine Massenmedien gab, hatte die Revue also nicht nur eine unterhaltende, sondern auch eine informierende Funktion. Mit Hilfe von populären Liedern und dramaturgischen Kniffen führte sie durch wichtige Geschehnisse des Jahres – eine Form des „Edutainments“ würde man es wohl heute nennen.


Revuen wurden im Paris des 19. Jahrhunderts an denselben Orten aufgeführt, wo auch die Varietékunst ihren Ausgang nahm, etwa dem legendären „Folies Bergère“. Im beginnenden 20. Jahrhundert setzten die Häuser unterschiedliche Schwerpunkte. Programme mit Solisten, die mit eigenständigen Acts in Gastspiele gehen, rechnet man dem Varieté zu, während Revuetheater auf große konzeptgeleitete Inszenierungen setzten, in denen die einzelnen Beteiligten zumeist anonym bleiben.  


Nun war Paris bereits damals eine Kulturmetropole und diverse Bühnen wetteiferten um die Gunst des Publikums mit immer spektakuläreren Bühneneffekten, immer prächtigeren Kostümen und immer mehr Beteiligten. Aus dem Hang zum Überschwang sollte später ein Charakteristikum für die Form der Revue werden. „Wenn man sich mit Revuemachern in Paris unterhält, dann zeichnet eine gute Revue aus, dass eine absolute Ausstattungs- und Materialschlacht stattfindet“, erzählt Urs Jäckle von seinen Studien. Der Berliner Friedrichstadtpalast mit seiner größten Theaterbühne der Welt und der Betonung immer teurerer und aufwändigerer Produktionen ist ein weiteres Beispiel.


Hier konnte sich Urs Jäckle mit der kleinen Bühne und intimen Atmosphäre des Krystallpalasts natürlich kein Vorbild nehmen. „Wenn man so sehr auf den Effekt als Stilmittel setzt, dann verpflichtet man sich, sich im Laufe so eines Abends immer mehr zu überbieten“, erklärt er. Dieser Ansatz habe ihn nicht interessiert. Zugleich führt er das Pariser Crazy Horse als Beispiel für alternative Spielarten der Revue an. Dort seien alle Elemente einer Revue vorhanden, auf ganz kleinem Raum und mit klarem künstlerischem Profil. Das 1951 von Alain Bernardin gegründete Haus betont einen weiteren Aspekt, der zu den Zutaten einer Revue gezählt wird – die Erotik. Es ist bekannt für seine sehr freizügig und nach einheitlichen körperlichen Kriterien ausgewählten Tänzerinnen, die avantgardistisch in Szene gesetzt werden, etwa mit kunstvollen Lichteffekten.


Der Körper als Kunstobjekt und – in diesem Fall auch wortwörtlich – Projektionsfläche für Kunst – da sind wir bei dem nächsten Charakteristikum der Revue. So wurden Revuen schon früh als Labor für extravagante Mode benutzt, wie Urs Jäckle betont. In Sachen Freizügigkeit hat ein Varietéhaus wie der Krytallpalast selbstverständlich andere Grenzen als die Parier Nachtclubszene, zu der das Crazy Horse gehört. So geht es in Leipzig weniger um das kunstvolle Entkleiden als um das kunstvolle Ankleiden. „Für Rouge haben wir einen High-Fashion-Ansatz gewählt, wo sehr experimentell gearbeitet wird“, erläutert Urs Jäckle, „das Verständnis von Kostüm geht dabei viel weiter, es geht um mehr als nur etwas Schönes anzuziehen“. Er zieht Parallelen mit der Bauhaus-Bewegung, mit Oskar Schlemmer und dem Verständnis vom Körper als Skulptur. Und in der Tat bewegen sich die Kostümentwürfe in „Rouge“ irgendwo zwischen Triadischem Ballett und Federboa – Avantgarde trifft 20er-Jahre-Nostalgie.


Ikonische Eröffnungsszene im "Crazy Horse" mit Tänzerinnen als Royal Guards (c) Crazy Horse
Ikonische Eröffnungsszene im "Crazy Horse" mit Tänzerinnen als Royal Guards (c) Crazy Horse

Während eine gewisse Frivolität zur Revue dazugehört, ist die erotische Darstellung des weiblichen Körpers gerade in der heutigen Zeit mit dem Risiko verbunden, in Klischee und Replikation tradierter Rollenbilder zu verfallen. Es gilt Kontrapunkte zu setzen und der Vielfalt gerade in urbanen Milieus gerecht zu werden – Revue ist ein Großstadtphänomen (vielleicht mit der Ausnahme des Royal Palace im beschaulichen Kirrwiller). So sah man im Crazy Horse schon Drag-Star Conchita Wurst – und in Leipzig sind es Jonathan und Ben Finch-Brown, die mit ihrer Verbindung aus Luftartistik und queerem Boylesque eine progressive Note einbringen.


Zeit, die zwei wohl zentralen Elemente von Revuen zu erwähnen: Tanz und Gesang. In „Rouge“ bedient sich die Sängerin Laura Liebeskind aus traditionellem Chanson und neuerem französischsprachigem Liedgut. In den Jahresendrevuen der Anfangszeit wurden populäre Melodien mit neuen Texten zum aktuellen Geschehen vertont. In manch heutiger Revue – etwa im Friedrichstadtpalast – dienen Liedtexte dem Vermitteln einer einfachen linearen Handlung. Hier werden Parallelen zum Musical deutlich, wenn auch die Handlung in der Revue sich tendenziell der puren Ästhetik unterzuordnen hat.


Die Ästhetik drückt sich stark im Zusammenspiel mit dem Tanz aus. Ein Leitgedanke von Urs Jäckle war die revuetypische starke Formalisierung der Bewegung. „Eine Musik, die nach vorne geht, etwas ein Stück weit Militärisches, weil so viel auf Synchronität geachtet wird“, das sind Aspekte, die er einarbeiten wollte. So gibt es auch im Krystallpalast eine Kickline, wenn auch nicht zum stereotypen Can Can getanzt.


Sie gelten als Erfinderinnen der Kickline - die Tillergirls um 1930.

Prägend für diese Art des Tanzes waren die aus Großbritannien stammenden Tiller Girls in den 1920er Jahren. Unter dem Eindruck der Hochphase des deutschen Revuetheaters zur Zeit der Weimarer Republik erkannte der Soziologe Siegfried Kracauer in den Tänzerinnen „Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken [und] keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind“. Ihre synchronen Beinbewegungen – charakteristisch für die Kickline – verglich er mit den Produktionsprozessen in einer Fabrik. [2] Nicht zufällig fiel die steigende Popularität der Ästhetik in eine Zeit fortschreitender Industrialisierung und Glaubens an den technischen Fortschritt.


Wie man heute zeitgemäß mit dieser Form des Tanzes umgehen kann, zeigt der Berliner Friedrichstadtpalast. Urs Jäckle hebt die Revue „The One Grand Show“ von 2016 hervor. „Da gab es eine Kickline, die komplett dekonstruiert und in Zeitlupe getanzt wurde“, erinnert er sich, „das gehört zu den Ansatzpunkten, die uns inspiriert haben“. In Leipzig steht indes kein großes „Corps de Ballet“ auf der Bühne, sondern nur die beiden Tänzerinnen Conny Seidler und Jazzmin Caruna, die aber in den großen Tanzszenen durch die weiteren Mitwirkenden, insbesondere die Artisten, unterstützt werden.


Da sind wir bei dem, was aus der Revue die „Varieté-Revue“ macht. Denn während Artistik laut Urs Jäckle in der Revue zumeist eher der Überbrückung der Zeit dient, in der sich das Ballett umzieht, spielt sie in „Rouge“ eine zentrale Rolle. Entsprechend sind die Artistinnen und Artisten auch zahlenmäßig in der Mehrheit. Dennoch ist der Tanz stärker gewichtet als sonst – ähnlich jedoch wie im alten Krystallpalast, wie er vor dem zweiten Weltkrieg existierte, wo „Tanz durchaus ein Drittel ausgemacht hat“, wie Urs Jäckle betont.


Akrobatik in "Rouge" - das Trio Beautiful (c) Sandrino Donnhauser
Akrobatik in "Rouge" - das Trio Beautiful (c) Sandrino Donnhauser

Urs Jäckles Gespür für Geschichte und dem Bestreben, Themen auf den Grund zu gehen, ist es wohl zu verdanken, dass „Rouge“ alles andere als bloß Varieté-Nummernprogramm mit oberflächlicher thematischer Dekoration wurde. „Wir wollten nicht nur eine Referenz an die Revue sein“, drückt er es aus. Vielmehr wollte er aus prägenden Momenten seiner Erinnerung an Revuen etwas neues zusammensetzen, das dem Ort Krystallpalast gerecht wird.


Wie inszeniert man nun eine Unterhaltungsform, die besonders mit Pomp, Überwältigungsästhetik und Formalismus in Verbindung gebracht wird, an einem Ort, der für intime Nähe des Publikums steht? „Rouge“ bedient sich dazu des Stilmittels der Hommage. Gleich zu Beginn wird man mit Schnellzeichner Ernesto Lucas in der Rolle des Pariser Künstler-Bohemien in die Atmosphäre des Montmartre entführt. „Es gibt dramaturgische fünf Stränge, die wir verflechten“, erklärt Urs Jäckle, „Tanz, Artistik, Sängerin, die Band als Akteure und der Maler, der als eine Art Fenster fungiert, als würde man nach draußen auf Montmartre hinausschauen.“ Artisten werden mit kurzen Geschichten eingeleitet, szenische Interaktionen stellen die Künstler als Persönlichkeiten in den Vordergrund, Comedy-Zauberer Raymond Raymondson sorgt dafür, dass man alles nicht zu ernst nimmt. Und die Band bewegt sich als aktiver Part auf der Bühne.


Es geht nicht darum, die große Revue vergangener Zeiten zu reproduzieren, sondern in das Lebensgefühl derer einzutauchen, die sie ermöglicht haben. Die artistischen Acts – mit dabei sind der Jongleur Andy Jordan, die Tuch- und Handstandartistin Veronica Fontanella, das „Trio Beautiful“ mit Adagio-Akrobatik – fügen sich ein in die Szenerie.


Ist „Rouge“ am Ende mehr Varieté mit Revue-Thema oder Revue mit hohem Anteil Artistik? Völlig egal, es ist gute Unterhaltung – und ein willkommener Anlass, sich mit den gemeinsamen Ursprüngen von Varieté und Revue zu beschäftigen.


Teaser der Show "Rouge" im Krystallpalast

 

 [1] Romain Piana, La revue théâtrale de fin d'année en France au XIXe siècle, Hermann, Paris 2025

[2] Anne Fleig, Tanzmaschinen. Girls im Revuetheater der Weimarer Republik. In: Sabine Meine, Katharina Hottmann (Hrsg.): Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930. Edition Argus, Schliengen 2005

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