High-Tech auf Reisen – beim Schweizer National-Circus Knie
- Daniel Burow
- 24. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Es ist später Nachmittag in Winterthur, die letzte Vorstellung des Schweizer National-Circus Knie hat gerade erst geendet, da hallt ein Pfiff über den Platz. Es ist das Zeichen für die Abbaucrew in ihren organgefarbenen Warnwesten. Der letzte Zuschauer hat das Zelt verlassen, der Abbau der Sitztribünen, im Zirkusjargon besser als Gradin bekannt, kann beginnen. Der Ablauf ist strikt durchgetaktet, jeder weiß genau, was zu tun ist. Es bleibt nicht viel Zeit, denn am nächsten Tag soll das 2140 Personen fassende Zelt im ca. 50 km entfernten St. Gallen schon wieder stehen.
Abschnitt für Abschnitt senkt sich die Rundleinwand und öffnet den Blick auf das emsige Treiben der Arbeiter im Zeltinneren. Zugleich setzt ein ganz besonderes Ballett ein – das der „Manitous“, wie die für den Lastentransport beim Auf- und Abbau verwendeten Teleskoplader der Herstellermarke entsprechend genannt werden. Wie einer exakten Choreografie folgend bringen sie leere Gestelle für die Schalensitze des Gradins hinein und beladene wieder hinaus.

Nicht einmal vier Stunden später werden vom bunten Zirkustreiben nichts mehr als ein paar abholbereit auf dem sonst leeren Platz stehende Auflieger und Anhänger übrig sein. Während dessen stehen in St. Gallen bereits die imposanten Rundbogenmasten – von ihnen besitzt der Circus Knie zwei Garnituren, damit der Platzwechsel schneller geht. Am nächsten Morgen wird die weiß-rote Zeltplane schon wieder emporgezogen – ein Schauspiel, das sich mehr als zwanzig Mal im Jahr wiederholt.
Das allein ist schon eine logistische Meisterleistung. Doch wenn man die Show und ihre Bühnentechnik sieht, wird die Leistung hinter den Kulissen umso beeindruckender. Eine ausgefeilte und üppig bestückte Lichtanlage setzt die Show in Szene. Insgesamt 260 Moving Heads, die zusammen über sechs Tonnen wiegen, gehören dazu. Im mastenfreien Zelt sind sie, an zahlreichen Traversen befestigt aufgehängt. Neben der Zeltkuppel dienen dabei die Aufhängepunkte des Zelts, die als markante Spitzen emporragen. Die Moving Heads verdienen eine besonders vorsichtige Behandlung, sie werden entweder einzeln abmontiert und in Flightcases transportiert, oder mitsamt der Traverse in speziell angefertigten XXL-Flightcases versenkt.

Noch diffiziler wird die Angelegenheit bei einer technischen Besonderheit auf dieser Tournee: den „Kinetic Balls“. Gemeint sind damit weiße Plastikbälle, die an einer in der Zeltkuppel hängenden runden Plattform mit Fäden befestigt sind. Ganze 550 dieser Bälle sind allesamt ansteuerbar per Elektrowinde auf- und abfahrbar. Eine spezielle Software ermöglicht es, aus den koordinierten Auf- und Ab-Bewegungen komplexe Muster entstehen und sich wieder auflösen zu lassen.
In der Show werden damit – nach aufwändiger Programmierung in der Kreationsphase - diverse Szenen begleitet. Die von Chanel Marie Knie gerittene Hohe Schule und wird zu einer harmonischen Symphonie von Mensch, Tier und Technik. Und der Luftartist Svyatoslav Rasshivkin scheint bei seiner Strapatendarbietung förmlich mit den „Kinetic Balls“ zu kommunizieren.


In dieser Art und Quantität wurde die Technologie noch nie zuvor in einem Zirkus eingesetzt. Und in der Tat ist der Einsatz der komplexen Technologie in einem Reisebetrieb mit teils wöchentlichem Auf- und Abbau auch für die Herstellerfirma ein Novum.
Etwas robuster ist da die zweite technische Innovation dieser Tour, die runde LED-Bühne mit einem auf die Größe der klassischen Manege abgestimmten Durchmesser. Das muss sie auch sein, denn sie wird nicht nur zum Platzwechsel in der Manege installiert, sondern in jeder Vorstellung während der 20-minütigen Pause. In der ersten Hälfte wird der weiche Boden aus Lehm und Sägemehl für die Pferdedarbietungen benötigt. Nach der Pause spielen sich die akrobatischen Darbietungen auf den aus etlichen LED-Elementen zusammengesetzten Bühne ab.

Computeranimierte visuelle Effekte begleiten die Darbietungen, was besonders bei der philippinischen „Urban Crew“ und ihrer energiegeladenen Tanzakrobatik zum Effekt beiträgt. Die Spitze erreicht das Mensch-Technik-Spektakel dann bei Svyatoslav Rasshivkin. Die Bewegungsformen der Kinetic Balls setzen sich nahtlos in den visuellen Effekten der LED-Bühne fort und rahmen seine Luftakrobatik grandios ein.
Der Circus Knie behauptet nicht zu Unrecht von sich, der einzige Zirkus zu sein, der mit solch aufwändiger Technik reist. Eine ähnliche Fülle an technischer Rafinesse in einer Zeltproduktion bietet vielleicht nur der Cirque du Soleil. Doch gastieren dessen Shows für jeweils viele Wochen in Großstädten und die Auf- und Abbauzeiten sind deutlich länger – ein ganz anderes Tourneekonzept als das des Circus Knie, der traditionsgemäß die ganze Schweiz mit Städten von klein bis groß bereist.

Dabei steht Knie durchaus in einer Tradition großer Zirkusunternehmen in der Geschichte. Es gehörte seit jeher zum Anspruch des Zirkus, zu den ersten zu gehören, die technologische Innovationen für sich nutzbar machen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert haben vermutlich viele Menschen das elektrische Licht erstmals in Zirkusvorführungen bestaunt. Auch die ersten Kinovorführungen fanden im Zirkus statt.
Heutzutage, in einer Zeit schnellen technologischen Wandels, ist es schwer für den Zirkus, weiter an der Spitze des Fortschritts zu stehen. Man darf die Frage stellen, ob er das denn muss, oder ob er nicht vielmehr als eine Art „Entschleunigungsinstitution“ dienen soll, in der nicht die Technik, sondern der Mensch und sein Können im Mittelpunkt steht. Andererseits prägen aufwändige Showeffekte in Popkonzerten und anderen Bühnenshows die Sehgewohnheiten des heutigen Publikums.

Bei Knie hat man den Wettlauf mit dieser Konkurrenz aufgenommen und braucht den Vergleich wahrlich nicht zu scheuen. Nach Wasservorhängen mit Lichtprojektionen und Hologrammen in den Vorjahren sind nun also Kinetic Balls und eine LED-Bühne mit auf Tour. Und so werden auch die Zuschauer in St. Gallen zwei Tage später in den Genuss einer ausgeklügelten Show auf dem modernsten Stand der Bühnentechnik kommen.
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