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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

„Diaries in Motion“ – der Weg zur Premiere und weiter...

Vier Artistinnen aus drei Ländern - das ist der Cast von "Diaries in Motion" (c) Werner Hassepass
Vier Artistinnen aus drei Ländern - das ist der Cast von "Diaries in Motion" (c) Werner Hassepass

Am 13. September beim Lurupina-Zirkusfestival in Hamburg war es so weit: die neue Showproduktion von Scenic Circus, „Diaries in Motion“ wurde erstmals öffentlich aufgeführt. So schloss sich ein Kreis, denn Festivaldirektor Andree Wenzel war bereits früh in der Entstehungsphase der Show involviert. Als das Projekt zwischenzeitlich auf der Kippe stand, war er es, der durch sein Vertrauen, durch das Festhalten am Ziel dieser Premiere, den Ausschlag gab weiterzumachen. Doch damit nicht genug: Eine Residency im Produktionszentrum „Wiese“ in Hamburg in der Woche vor dem Festival ermöglichte wertvolle Probenzeit unter idealen Bedingungen.


Ideale Bedingungen bot auch das Berliner Pfefferberg-Theater, das nicht nur zum zweiten Aufführungsort der Show wurde, sondern ebenso einen erheblichen Teil der Kreationsphase mit Probenzeit auf der Theaterbühne förderte. So hat auch die Intendantin Christine Ritter einen wichtigen Anteil am Entstehen dieser Produktion.


Daniela Levina mit Handständen auf einer rotierenden Scheibe (c) Werner Hassepass
Daniela Levina mit Handständen auf einer rotierenden Scheibe (c) Werner Hassepass

In nicht mehr als vier Wochen gemeinsamer Kreationszeit, die auf eine mehrmonatige Vorbereitungsphase mit vielen Online-Meetings und individueller Probenzeit der beteiligten Artistinnen folgte, entstand eine einstündige Show. Die Produktion erhielt keine öffentliche Förderung und die Artistinnen kamen von drei Orten, den Zirkusschulen von Montpellier, Kyiv und Berlin, zusammen. Somit musste die Gruppenphase recht komprimiert sein. Gleichzeitig ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die Unterstützung durch mutige und vertrauensvolle Veranstalter in Zeiten ausbleibender Förderung sein kann.  


Zuvor konnten die vier Artistinnen des international zusammengesetzten Casts bereits ein 25-minütiges Work-in-Progress Showing im August zeigen – im Rahmen der „Circus Sessions“ im Zelt des Circus Probst in Gelsenkirchen. Hier gab es für die Artistinnen erstes wertvolles Feedback – und einen Hauch klassische Zirkusatmosphäre, inklusive Aufwachen im Wohnwagen neben dem Pferdestall.


Nach dem ersten Work-in-Progress Showing in Gelsenkirchen (c) Joachim Karp
Nach dem ersten Work-in-Progress Showing in Gelsenkirchen (c) Joachim Karp

Der Cast – das sind die Ukrainerinnen Daniela Levina und Dasha Ilnytska, die Russin Lera Kutsenko und die Österreicherin Alina Scharbl. So unterschiedlich die persönlichen Hintergründe der Beteiligten sind, so individuell wurden die Zugänge zum Thema der Show. Ausgangspunkt war die Frage, wie sich Freiheit und ihre Einschränkung mit Mitteln der Zirkuskunst ausdrücken lassen, basierend auf eigenen Erfahrungen der Artistinnen. Mit Unterstützung der kanadischen Zirkusexpertin Stacy Clark, die als Coach und Outside Eye die Produktion begleitete, wurde aus den individuellen Ideen und Acts ein zusammenhängendes Ganzes geformt.


„Have you ever…“ – so beginnen die Fragen, die zunächst zur Ergründung der Themen dienten, die den vier jungen Frauen wichtig waren, und die später auch direkt Eingang in die Show finden sollten. Sie richten sich zugleich an das Publikum, schaffen eine Verbindung zwischen Zuschauer und Performer.


Übergänge und Gruppenszenen entstanden zusammen mit Coach Stacy Clark (c) Werner Hassepass
Übergänge und Gruppenszenen entstanden zusammen mit Coach Stacy Clark (c) Werner Hassepass

Die unterschiedliche Herkunft der Artistinnen spielte im Kreationsprozess durchaus eine Rolle – jedoch stärker in Bezug auf unterschiedliche Arbeitsweisen als bei den inhaltlichen Schwerpunkten. Die Themen wurden letztlich keine primär ukrainischen, keine russischen und keine westeuropäischen. Es wurden universelle Themen, die junge Menschen umtreiben – Druck, Ängste, aber auch die Stärke, die durch Gemeinschaft entsteht. Zirkuskunst spielt damit, sich selbst unüberwindbar scheinende Hürden zu stellen und diese dann mit scheinbar übermenschlichen Kräften zu überwinden. Welches Genre könnte also geeigneter sein, um vom Überwinden von Krisen zu erzählen?


So bringen die Artistinnen nicht nur ihre Zirkusdisziplinen, sondern auch Geschichten ein. Daniela Levina erzählt mit ihrer Handstanddarbietung auf der rotierenden Scheibe darüber, wie Einsamkeit einen in mentales Chaos stürzen kann. In ihrem zweiten Act auf dem Cyr Wheel dann geht es darum, sich Stück für Stück nicht kontrollieren zu lassen, sondern selbst die Kontrolle zu übernehmen. Beide Acts hat sie in ihrer Heimat Kyiv zuvor eigens für die Show kreiert.


Dasha Ilnytska performt an den Strapaten (c) Werner Hassepass
Dasha Ilnytska performt an den Strapaten (c) Werner Hassepass
Alina Scharbl an den Tüchern (c) Werner Hassepass
Alina Scharbl an den Tüchern (c) Werner Hassepass

Dasha Ilnytska mit ihrem Act an den Strapaten das Überwinden sozialer Ängste darstellen – durch das Über-sich-Hinauswachsen als Zirkusartistin. Während sie Daniela beim Training auf dem Cyr-Wheel beobachtete, bekam Dasha eine neue Idee: Wäre so ein Cyr Wheel nicht auch als Luftring geeignet? So entstand zunächst als Duo, später ausgebaut zur Gruppendarbietung, ein völlig neuer Act, der ein seiner spielerischen Leichtigkeit eine Art Befreiungsmoment in der Show wurde.


Für Alina Scharbl ist es der Umgang mit äußeren Erwartungen, der aus ihrem Act an den Tüchern einen Akt der Rebellion machen lässt. Und Lera Kutsenko beschäftigt sich in einem sehr theatralen Act an einem eigens für die Show angefertigten Türrahmen mit dem Aufwachsen ohne Vater in einer konservativen Gemeinschaft von Frauen.


Lera Kutsenko mit ihrer Kreation im symbolträchtigen Türrahmen (c) Werner Hassepass
Lera Kutsenko mit ihrer Kreation im symbolträchtigen Türrahmen (c) Werner Hassepass

Die Tür wurde über Leras Act hinaus zu einem wichtigen Element der Show - das Passieren der Tür zu einer Art Übergangsritus, der für das Überwinden steht. Die Technik, die Lera in ihrem Act verwendet, ist der Arbeit am Trapez entlehnt. So bilden Trapezstangen die Enden des Türrahmens. Das besondere Requisit wurde nach Leras Idee angefertigt, u.a. mit der technisch versierten Hilfe von Pierre Maatz aus der Zirkusfamilie Maatz (Zirkus Proscho). Erst kurz vor Beginn der Gruppenphase der Kreation wechselte Lera vom Trapez, wo sie zuvor die Bewegungssprache und Trickfolge kreiert hatte, an ihr finales Requisit.


Noch parallel zu den Proben in der letzten Residency-Woche in Hamburg bekam die Tür den Feinschliff. Das Türblatt wurde von der Innenseite kunstvoll mit Schriften zu sehen, darunter eine besondere Botschaft in kyrillischer Schrift. Erst kurz vor der Premiere wurde das Werk – auch dank tatkräftiger Mithilfe der Jugendlichen vom Hamburger Jugendzirkus Zartinka – fertig.


Die Tür öffnet sich - im Finale der Show (c) Werner Hassepass
Die Tür öffnet sich - im Finale der Show (c) Werner Hassepass

Nach nunmehr vier Aufführungen in Hamburg, in Berlin und in Potsdam beim Jugendzirkus Montelino steht jetzt die vorerst letzte Etappe der kurzen „Diaries in Motion“-Tour an. Beim Festival Cyrkulacje im polnischen Lublin präsentieren wir die Show erstmals außerhalb Deutschlands. Doch das soll nur der Abschluss der ersten Episode sein. Im kommenden Jahr soll die Show noch weiterentwickelt, auf Basis des Feedbacks der ersten Aufführungen an der Dramaturgie gefeilt werden. Es läuft die Suche nach Auftrittsorten. Denn eines ist sicher: dieses Tagebuch hat noch viele Seiten zu bieten. Fortsetzung folgt.

 

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