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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

"People Watching" - Innovative Zirkuskunst aus Montreal

Autorenbild: Daniel BurowDaniel Burow
Das kanadische Kollektiv "People Watching" präsentiert ihr Erstlingswerk "Play Dead" im Berliner Chamäleon Theater. (c)Anna Fabrega
Das kanadische Kollektiv "People Watching" präsentiert ihr Erstlingswerk "Play Dead" im Berliner Chamäleon Theater. (c)Anna Fabrega

Es ist erst weniger Jahre her und wirkt doch schon so weit weg. Die Rede ist von 2020, dem ersten Pandemiejahr. Es war ein Jahr, das die gesamte Zirkuswelt von einem Moment auf den anderen auf Stillstand gebremst hat. Es war ein Jahr des Leidens, doch gleichzeitig wurde es auch zu einem Jahr der Kreativität. Viele Künstler standen plötzlich ohne Engagements da, gleichzeitig wurden staatliche Förderungen zugänglicher als je zuvor. So suchten viele Künstler ein Ventil für ihre Kreativität und nutzten die Zeit für Neukreationen. Eine jener Kreationen, vielleicht die erfolgreichste, ist nun im Berliner Chamäleon Theater zu sehen: die Show „Play Dead“ vom 2020 in Montreal gegründeten Kollektiv „People Watching“.


Sabine van Rensburg, Brin Schoellkopf, Jérémi Lévesque und Natasha Patterson hatten damals gerade noch Engagements mit den 7 Fingers und dem Cirque Éloize gehabt, als die Welt stillstand. Die vier Freunde, die sich von der gemeinsamen Zeit an der Zirkusschule Montreal kannten, lebten damals gemeinsam in einer Loftwohnung. Aus dem Gefühl der Isolation heraus begannen sie zu experimentieren. Ohne von Beginn an zu wissen, dass daraus einmal eine Show entstehen würde, entwickelten sie Schritt für Schritt das, was einmal das physische Vokabular von „People Watching“ werden sollte.


Experimentieren bei der ersten Residency in Montreal (c)Brin Schoellkopf
Experimentieren bei der ersten Residency in Montreal (c)Brin Schoellkopf

Als die Welt sich langsam wieder öffnete, war ihnen klar: daraus sollte mehr werden. Es gelang ihnen, an eine Förderung durch das Conseil des Arts et des Lettres du Québec (CALQ) zu kommen und sie fanden zu einer dreiwöchigen Residency-Phase zusammen. Darauf hin waren alle wieder verstreut in andere Companies. Im Jahr darauf stießen die Freunde Ruben Ingwersen und Jarrod Takle, mit dem ich mich in Berlin zum Gespräch über „Play Dead“ traf, hinzu. Alle nahmen sich vier Monate am Stück frei, um die Show zu Ende zu kreieren. Diese Anfangsphase von „People Watching“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass Innovation nicht zwingend von Beginn an zielgerichtet ist und wie wichtig Förderung gerade in dieser Phase ist, um Kreativität in ein erfolgreiches Projekt zu kanalisieren.


Die Anfänge während der Pandemie hatten einen bleibenden Einfluss auf die Kreation. Was ganz Anfang erarbeitet wurde, war von Intimität und dem Fokus auf Details, viel Kleingruppen- und Duo-Arbeit geprägt. „Intimität wurde ganz natürlich zum Thema“, erklärt Jarrod, „es fühlte sich wie das Wichtigste an, was es auf der Bühne zu erzählen gab.“ Die Verbindung in der Gruppe beschreibt er als besonders. Und auch das Timing passte für die sechs Freunde, die schon immer an Ensemblearbeit und Kreation interessiert waren: „Wir waren an diesem Punkt im Leben, in der Karriere, wo es Sinn machte, den Übergang zur Eigenkreation zu finden.“


Aus der Vielzahl von Companies im zeitgenössischen Zirkus stechen nur solche heraus, die einen eigenen Stil finden. Der Stil von „People Watching” sei sehr vom Kino inspiriert, so Jarrod, außerdem von Tanz- und Physical-Theater-Companies, mehr vielleicht als vom Zirkus. So zeichnet „Play Dead“ eine große Detailverliebtheit aus, in Bezug auf die Szenografie wie auch in präzis choreografierten Szenen. Dennoch, verrät Jarrod, gibt es auch Momente der Improvisation, die in jeder Aufführung etwas anders, organisch, interpretiert werden.


Viele Duo-Szenen, viele Einflüsse aus dem zeitgenössischen Tanz (c)Cecilia Martin
Viele Duo-Szenen, viele Einflüsse aus dem zeitgenössischen Tanz (c)Cecilia Martin

„Organisch“ ist eines von Jarrods Lieblingswörtern in unserem Gespräch. Damit beschreibt er auch die Art, wie sich die Storyline von „Play Dead“ entfaltet. Sie wollten mit der Konvention brechen, wonach eine Show einem Rezept aus Nummern und Übergängen zu folgen hat. „Uns interessierte es, ein sich bewegendes Tableau aus Bildern und Momenten zu kreieren, manche kurz und manche lang“, beschreibt Jarrod den Ansatz.


„Organisch“ – so umschreibt Jarrod auch den Kreationsprozess, der kollaborativ war, ganz ohne externe Regie. Dabei half es, dass die Akteure sich schon lange kannten, befreundet waren, eine gemeinsame Vision und einen ähnlichen Stil teilten. Auf dieser Basis gab es viel Trial-and-Error. „Manchmal hatte eine Person eine starke Idee oder ein Konzept, dann würde er die Führung übernehmen, von der Bühne treten und für diese Szene die Rolle des Outside Eyes einnehmen“, erinnert sich Jarrod. Andere Phasen mit viel Improvisation in der Gruppe vergleicht er mit einer Jam-Session in der Jazzmusik.


Ein Schlüssel zu erfolgreicher Ko-Kreation, den Shana Carroll von den 7 Fingers einmal „Survival of the most passionate“ genannt hat, gilt auch für „People Watching“: „Wenn jemand eine starke Vision davon hat, was ein Moment sein soll, dann würden alle anderen einen Schritt zurück treten und ihm erlauben den Raum einzunehmen.“ Mit dieser Einstellung gelang es dem Kollektiv, die Gefahr des mittelmäßigen Kompromisses zu umgehen, und das sieht man dem Ergebnis an. Und vielleicht zeigt sich hier auch, dass die meisten Ensemblemitglieder Kreationserfahrung bei den 7 Fingers mitbrachten. Die äußert sich auch in manchen Stilelementen der Show, wie beim Tellerdrehen in Mitten eines eingefroren still sitzenden Ensembles - die Szene ließ mich an "Passager" denken.


Tellerdrehen - alte Disziplin neu inszeniert (c)Anna Fabrega
Tellerdrehen - alte Disziplin neu inszeniert (c)Anna Fabrega

Wenn es auch keinen externen Regisseur gab, so erreichte die Kreation doch irgendwann einen Punkt, an dem externes Know-How notwendig war, um zu einer bühnentauglichen Show zu kommen. Und wieder stießen Freunde hinzu, die sie bereits aus der Circus Community von Montreal kannten. Emily Tucker, eine ehemalige Artistin, machte gerade ihre ersten Schritte als Set Designerin und schuf die heimelige Atmosphäre des Sets von „Play Dead“. Emile Lafortune begann die Proben zu besuchen und Ideen für das Lichtdesign zu entwickeln. Es waren Personen, bei denen das Kollektiv sich sicher war, dass sie Arbeit in die gewollte Richtung pushen würden.


Die namhaften Companies, in denen die Ensemblemitglieder zuvor oder parallel arbeiteten, unterstützten mit Probenräumen oder in pro Bono angebotenen Beratungssessions. Denn die produktionstechnischen Aspekte, wie man eine Show auf die Bühne bringt und international touren lässt, waren allen völlig neu. Jungen Artisten, die den Schritt zur eigenen Company gehen wollen, gibt Jarrod deshalb einen Rat: „Bittet um Hilfe. Die Circus Community ist einzigartig in dieser Hinsicht. Wir sind nur hier angekommen wegen all derer, die uns geholfen haben.“


Nach der viermonatigen Residency hatte „Play Dead“ im Sommer 2023 Premiere beim Montréal Complètement Cirque, dem Zirkusfestival, das jedes die ganze Stadt zur Bühne werden lässt. Die Show schlug mit ihrer innovativen Ästhetik und einnehmenden Intimität sofort ein. Das erreichte über die Mund-zu-Mund Propaganda auch die deutsche Agentur Aurora Nova, die Erfolgscompanies wie u.a. CIRCA unter Vertrag hat. Sie schauten sich die Show an, führten Gespräche und stellten schließlich eine im Juli 2024 startende internationale Tour zusammen, die sie nun nach Berlin geführt hat.  


Erster Teaser Trailer von der Premiere beim Montréal Complètement Cirque

Ich sah die Show bei der Berlin-Premiere. In der Tat wirkt „Play Dead“ wie eine unglaublich verdichtete Zusammenstellung zwischenmenschlicher Beziehungen und Emotionen. Der Show zu folgen ist ein Work-Out für die eigene Phantasie und Vorstellungskraft, so schnell und unvermittelt wird man von einer Szene in die nächste katapultiert, mit einer Prise Surrealismus und einem Gespür für Ironie. Die visuelle Ästhetik liegt irgendwo zwischen Pina Bausch und Mary Poppins. Das Bühnenbild, bestehend aus antik wirkenden Möbelstücken, wird immer wieder zum Requisit für die Artistik – ob bei Akrobatik im und am Schrank oder durch Counterweight-Technik mit dem Vorhang. Momente hoher Konzentration auf kleine Sub-Handlungsstränge wechseln sich ab mit bühnenumgreifend choreografierten Ensembleszenen, wie einem fulminanten Bar-Gerangel-Charivari zu den Klängen von Tschaikovskis erstem Klavierkonzert. Bei letzterem kommt das akrobatische Können der Akteure am meisten zum Vorschein, davon hätte es gern noch etwas mehr sein können. In der Mitte der zweiten Hälfte droht sich das Bewegungsvokabular ein wenig zu erschöpfen, vermutlich der für das Chamäleon erfolgten Verlängerung der Show geschuldet, um aber zum Ende nochmal an Intensität zu gewinnen.


Erweiterter Cast für Berlin - Handstandszene mit Imogen Huzel und Jarrod Takle (c)Anna Fabrega
Erweiterter Cast für Berlin - Handstandszene mit Imogen Huzel und Jarrod Takle (c)Anna Fabrega

Das Chamäleon ist ein besonderer Ort für Zirkus. Jarrod war hier zuvor schon 2021 als Artist im Rahmen der CIRCA-Gastspielreihe. Die besonderen Anforderungen – eine Saison mit täglichen Shows sowie eine verlängerten Showdauer, um die für das Haus obligatorische Pause zu ermöglichen – brachten einige Anpassungen mit sich. Um für die höhere physische Intensität und mögliche Verletzungsfälle gewappnet zu sein, wurde der Cast auf acht Personen erweitert, Sereno Aguilar Izzo und Imogen Huzel stießen zum Cast hinzu. Für die zusätzlichen Szenen wurden eigens neue Kostüme entworfen und neue Musik komponiert und eingespielt. Drei Wochen im November und einige Tage vor dem Showbeginn vor Ort in Berlin mussten für alle Anpassungen ausreichen. Das Ergebnis wirkt so „organisch“, als wäre die Show schon immer so gespielt worden.


„Play Dead“ ist noch bis zum 1. Juni in Berlin zu erleben. Auch danach ist der Terminkalender für die Show gut gefüllt. Parallel arbeitet „People Watching“ bereits an einer Folgeproduktion, in der sie den Stil der Company weiterentwickeln wollen. Noch in diesem Jahr ist eine erste Creative Residency geplant. Mehr lässt sich Jarrod dazu noch nicht entlocken, doch klar ist, dass wir noch viel von dieser jungen Company hören werden.

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