
Einmal beim Cirque du Soleil arbeiten, diesen Traum haben viele junge Artisten. Die aus Russland stammende Wahlkanadierin Irina Naumenko hat ihn sich gleich auf zwei verschiedene Weisen erfüllt. Denn sie stand nicht nur für 16 Jahre als Artistin für „den Cirque“ im Rampenlicht, sondern kehrte auch nach ihrer Artistenkarriere noch einmal in neuer Rolle zurück. Seit 2022 arbeitet sie als Casting Advisor vom Heimatsitz Montreal aus.
Dabei war Irina eine internationale Karriere im Showbusiness alles andere als in die Wiege gelegt. Sie wuchs in einem Dorf im Südwesten Russlands auf – tiefste Provinz, wo es kaum etwas zur Unterhaltung gab. Da scheint es wie eine Fügung, dass just als die immer schon äußerst aktive Irina 12 Jahre alt wurde, ein Zirkusstudio für Kinder in ihrem Heimatort öffnete.
Zuerst galt ihr Interesse der Luftartistik, doch ihre Trainerin entdeckte schnell Irinas Talent für Handstand und Kontorsion. „Es ist eine Disziplin, der man sich voll verschreiben muss“, sagt sie rückblickend, „der Fortschritt von Tag zu Tag ist sehr langsam, deshalb musst du immer das große Bild im Auge behalten.“ Das sei ihr als 12-jährige noch schwergefallen. Doch nachdem sie sich letztlich doch in diese Richtung der Akrobatik verliebt hatte und sieben Jahre harter Arbeit mit der renommierten Handstandtrainerin Lyudmila Soloveva später wurde sie von der staatlichen russischen Zirkuskompanie Rosgoscirk entdeckt und unter Vertrag genommen.
Dort angekommen ließ die nächste glückliche Fügung nicht lange auf sich warten. In einer Show arbeitete Irina zusammen mit Natalia Goncharova, die ihre berühmte Ballettkür auf dem Pferderücken zeigte. „Sie wollte sich als Choregrafin ausprobieren, also fragte sie mich, ob wir zusammen einen neuen Act für mich kreieren könnten“, erinnert sich Irina. Fortan arbeiteten sie jede Nacht nach der Show daran. Und irgendwann gab Natalia Goncharova das Video der Arbeit an Cirque du Soleil weiter, wo man gerade nach einem Ersatz für die Solo-Handstanddarbietung in der Show Varekai suchte. Es sollten neun Jahre für Irina in dieser Tourneeproduktion folgen und sieben weitere als Artistin für Cirque du Soleil in anderen Projekten.
In Irinas Lebensweg mischen sich die Einflüsse von Ost und West – die strikte, auf technische Perfektion zielende Schule in ihrer russischen Heimat und die experimentierfreudige, avantgardistische Welt, in die sie durch Cirque du Solei früh eintauchen konnte. Bei ihren Stationen lernte Irina verschiedene Arten kennen, einen Act zu kreieren. In einem Zirkusstudio schlägt typischerweise die Nachwuchsartistin ein Musikstück vor, das ihr gefällt, und die Trainerin entwickelt dazu bestmöglich eine Nummer, die all die technischen Fähigkeiten zeigt. An der späteren Arbeit mit Natialia Goncharova schätzt Irina, wie sie auf die individuellen Anforderungen ihres Körpers einging – „nicht gezwungen, sehr organisch“.

Beim Cirque du Soleil lernte sie erstmals kennen, wie ein Act nicht nur passend zu einer Musik entsteht, sondern einen Charakter portraitiert: „Es war ein Schmetterling. Du musst feminin sein, du musst sanft und etwa langsamer sein, in manchen Momenten mit dem Rhythmus spielen“, beschreibt sie die Erfahrung, „es war eine harte Lernkurve, die ich aber sehr begrüßt habe.“ Es war ein kooperativer Prozess, in dem sie sich auf die Expertise ihrer Choreografin verließ und diese auf Irinas Wissen um ihre physischen Möglichkeiten.
Heute, aus der Sicht eines Casting Advisors, gibt Irina jungen Artisten den Rat, die technische Seite nicht zu vernachlässigen. Das technische Level sei sehr entscheidend für Cirque du Soleil, dann komme die Kreativität dazu. Irina schätzt es sehr, wenn sie mit jungen Artisten redet, die ein Konzept haben, vielleicht in Bezug auf etwas, das sie selbst erlebt haben. Doch sie empfiehlt immer auch eine kommerzielle Version des Acts zu haben, in der die puren technischen Fähigkeiten sichtbar werden. „Wenn das Konzept eines Acts nicht in unsere Show passt und du nichts daran ändern möchtest, dann kann man nichts machen. Aber wenn du sehr kreativ bist, konzeptionell denkst, aber auch eine starke technische Basis hast, dann können wir damit arbeiten.“
Bei ihrer Arbeit im Casting hilft es Irina, dass sie auf ihre lange Erfahrung als Artistin zurückblicken kann. Im Casting Department von Cirque du Soleil sind Experten für die jeweiligen Disziplinen, bei ihr liegt der Fokus auf Solo- und Duo-Acts. Der Übergang von ihrer aktiven Artistenkarriere ins Casting war nicht fließend und doch wieder so eine Mischung aus Glück und Zielstrebigkeit, wie sie für Irina typisch scheint. Nach ihrer letzten Show für Cirque du Soleil arbeitete Irina noch einige Jahre als Freelancerin, wurde in Montreal sesshaft und nutzte ihre Kontakte in die reichhaltige Zirkuslandschaft der Region. So sollte ein Engagement beim kanadischen Cirque Eloize, in der Show „Serge Fiori, Seul Ensemble“ im Jahr 2019 ihr letzter Auftritt sein. Das hatte sie im Voraus geplant. Dass unmittelbar danach die Pandemie die gesamte Branche in die Existenzkrise führen sollte, konnte indes niemand wissen. So erwies es sich als der bestmögliche Zeitpunkt, um sich neu zu orientieren. Sie belegte Französischkurse, arbeitete zwei Jahre in der Modebranche – bis sie bei einer ihrer Schichten 2022 eine Stellenanzeige vom Cirque du Soleil bemerkte. Sie wollte es auf einen Versuch ankommen lassen und nach zwei Interviewrunden war sie Teil des Casting Departments in Montreal.
Casting hat beim Cirque du Soleil andere Dimensionen als irgendwo sonst in der Branche. Die Maschinerie des Cirque betreibt 16 Shows und richtet zudem diverse Events aus, insgesamt stehen aktuell mehr als 1.400 Artisten unter Vertrag. Organisiert wie ein Industrieunternehmen, arbeitet das Casting Department verschiedenen Unternehmensbereichen zu: der Touring Show Division, der Residential Show Division, Special Events und New Creations. Im Mittelpunkt des Casting-Prozesses steht eine umfangreiche Datenbank. Jeder Artist hat eine Datei, in der alle Informationen und jede Korrespondenz notiert werden. „Wenn wir mit Artisten sprechen, betonen wir immer, wie wichtig es ist, diese Datei up-to-date zu halten.“, erklärt Irina.

Wie sieht nun also der Weg zu einem Engagement beim Cirque du Soleil aus? Wenn ein Kreativteam nach Artisten sucht, stellt es eine Anfrage an das Casting. Dort wird auf Basis der Datenbank eine Liste zusammengestellt. Die Artisten darauf werden kontaktiert, es wird das Projekt erklärt, nach Interesse und Verfügbarkeit gefragt. So wird die Liste kürzer. Jetzt erstellt der Casting Advisor eine Präsentation, die alle relevanten Informationen über die potenziellen Kandidaten sowie deren Videos enthält. Das Kreativteam soll sich damit ein Bild machen können, um was für eine Person es sich handelt. Basierend auf dem Feedback geht es entweder weiter oder das Casting Team muss die Suchkriterien anpassen. Es kommt auch vor, dass die Suche nochmal ganz von vorn beginnt. Ist final ein Artist ausgewählt, dann wird er an das Vertragsteam weitergeleitet, wo dann alle Konditionen durchgesprochen und ein Vertrag verhandelt wird.
All das klingt recht abstrakt, doch es kann auch vorkommen, dass Irina auf einem Festival jemanden sieht, der gerade genau auf die Anforderungen einer Produktion passt. „Wenn wir auf Festivals reisen, wissen wir um die aktuellen Bedarfe der Firma. Wenn jemand passt, dann mache ich entweder eine Notiz und spreche mit ihm, oder ich empfehle ihn direkt im Casting-Team weiter“, erklärt sie. Irinas Festivalbesuche bedürfen daher guter Vorbereitung: „Wir machen immer unsere Hausaufgaben, gleichen alle Teilnehmer des Festivals mit unserer Datenbank ab. Jeden Abend nach der Show gehe ich durch die Dateien; ich prüfe, ob sie Fortschritte gegenüber dem letzten Festival gemacht haben. Das müssen nicht neue Tricks sein, manchmal hebt eine neue Dynamik oder Choreografie den Act auf ein anderes Level.“
Bei allen strikten Anforderungen sucht Cirque du Soleil auch immer nach etwas Neuem, Innovativem, dass es noch nicht in der Datenbank gibt. Es kommt vor, dass eine Ídee neu und interessant ist, der Artist aber noch Zeit braucht sie weiterzuentwickeln. „Manchmal, wenn wir die Möglichkeit haben, nehmen wir die Person und helfen ihr bei der Entwicklung“, so Irina. Die Idee bleibt dann so lange unabhängig von einer Show, bis sie in einer Produktion passt. Das kann z.B. eine Neukreation zwei Jahre später sein.
Nach jedem Festival gibt es in Montreal ein Meeting mit allen Kreativteams, bei dem die Casting-Erkenntnisse präsentiert werden. Bei Interesse wird dann mit den Kandidaten über eine Zusammenarbeit gesprochen. Das kann von einem einwöchigen Workshop zum Kennenlernen und gemeinsamen Research bis zu einem direkten Engagement für eine laufende Showkreation reichen.
Es muss spannend für Irina sein, diesen Prozess nun aus Sicht des Cirque du Soleil zu durchleben, nachdem sie als junge Artistin selbst auf der anderen Seite stand. Als sie damals die ersten Gespräche mit dem Cirque führte, folgte erst eine viermonatige Trainingsperiode, um zu sehen, ob man zusammenpasst. „Ich hatte das Mindset, dass ich alles gebe. Und falls es nicht klappen sollte, hätte ich es zumindest mit allem, was möglich war, versucht“, erinnert sich Irina. Es hat geklappt. Und man kann ihr anmerken, welche Freude es ihr macht, heute jungen Artisten die Chancen zu ermöglichen, die sie selbst einmal erfahren hat. Was sie jungen Talenten am Beginn ihrer Karriere noch auf den Weg geben möchte? „Seid kühn, seid kreativ und vergesst nicht, es auch zu genießen.“
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