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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

Zirkus auf den Spuren eines Wassertropfens - die Company EllementArts

Aktualisiert: vor 7 Tagen

"Dancing Water Drops" - ein Zirkusstück über den Kreislauf der Natur (c) Nicolas Vincent
"Dancing Water Drops" - ein Zirkusstück über den Kreislauf der Natur (c) Nicolas Vincent

“Ich sehe das Leben als die Reise eines Wassertropfens. Sie beginnt vielleicht mit dem Schmelzen eines Gletschers, wo er lange Zeit unbeweglich war. Der Wassertropfen findet immer seinen Weg, selbst wenn Felsen den Weg zu versperren scheinen. Oftmals entstehen durch diese Richtungswechsel wunderschöne Formen ... Wir können erkennen, dass der Fluss selbst Kunst ist – Lasst uns selbst Kunst sein...“


Dies sind Zeilen aus dem Text „The Journey of a Water Drop“, den die Schweizer Zirkusartistin Anja Harbegger vor sechs Jahren spontan niedergeschrieben hat, als sie an einem idyllischen Fluss in Bern saß. Damals dachte sie noch nicht daran, dass daraus einmal eine Show oder gar eine Company entstehen würde. Doch manchmal nimmt eine Idee, eine Inspiration, ungeahnte Wege, wenn sie auf eine Gelegenheit trifft.


Im Sommer bekam Anja die Möglichkeit, in einem Saal im schweizerischen Ittingen ein Stück aufzuführen. Ohne irgendeine fertige Show im Petto zu haben, erinnerte sie sich an den Moment am Fluss – und die Idee zum Zirkusstück „Dancing Water Drops“ war geboren. Das war etwa einen Monat vor dem Aufführungstermin. Es brauchte Mitstreiter – und zwar schnell. Hier kam ihre Bekannte Ingrid Adler ins Spiel. Die österreichische Regisseurin hatte schon immer einen Hang zur Bewegung – ihr Hobby führte sie erst in die Kampfkunst und später in den Stuntbereich, da lag Zirkus nicht weit weg. Anja war gleich mit der ersten Idee klar, dass sie Unterstützung in Bezug auf die Dramaturgie haben wollte. „Oft fehlt in Zirkusstücken der Rote Faden“, erklärt sie, „ich hatte zwar eine Idee, aber wollte sichergehen, dass es von außen Sinn macht. Welche Rollen gibt es? Wie stehen sie zueinander? Und so weiter.“


Die beiden verstanden sich bereits gut. Ingrid hatte zuvor Akrobatiktraining bei Anja genommen, Anja Karatetraining bei Ingrid. Drei Wochen lang planten sie das Stück miteinander, dann folgte eine Woche Endproben mit dem Cast, der neben Anja zunächst noch eine Artistin und eine Tänzerin umfasste. Die ESAC-Absolventin Elise Martin brachte ihre vielseitigen Fähigkeiten in Vertikalseil, Handstand, Tanz- und Partnerakrobatik ein, Mara Kaderli stammt aus dem Ballett. Das Ergebnis der gemeinsamen Kreation war ein 45-Minuten-Stück, das Anja noch als „Work-in-Progress“ betitelte – denn es sollte weitergehen.


Salome Aebersold war zu Beginn bereits hinter den Kulissen mit dabei. Die Absolventin der École de Cirque de Lausanne stieß später auch zum Cast dazu. Sie performt am Tanztrapez im Solo und Duo – als Duo Ocean Sisters zusammen mit Anja. Außerdem ergänzte Zoë Wiedmer später noch das Team als zweite Tänzerin, die Mara Kaderli bereits von der Teilnahme an internationalen Tanzwettbewerben kannte.


Anja Harbegger vebindet Harfenspiel und Luftakrobatik in ihrem Act "Lunarpa" (c) Nicolas Vincent
Anja Harbegger vebindet Harfenspiel und Luftakrobatik in ihrem Act "Lunarpa" (c) Nicolas Vincent

Schon in der Anfangsphase zeichnete sich der besondere Stellenwert der Musik ab. Anja, selbst passionierte Musikerin, komponierte für die Harfe und für Mara Kaderli, die Flöte spielte. Sie integrierte einen einzigartigen Solo-Act, bei dem sie Luftakrobatik an den Strapaten mit dem Spiel an der Harfe – in der Luft – verbindet. Der Act sollte auch ihre Abschlussarbeit an der Zirkusschule von Montreal werden, die sie bis 2022 absolvierte.


Auf die Rückkehr aus Montreal folgte der nächste Schritt der Show. „Als ich im Sommer 22 nach Hause kam, wurde ich von einem Zirkus in La Chaux-de-Fonds eingeladen mit der Frage, ob ich eine Company habe und ein Projekt für eine Ko-Produktion“, erinnert sich Anja, „da dachte ich sofort an den Anfang, den wir bereits hatten.“ Die anderen aus dem Team begeisterten sich ebenfalls für die Idee. So gründete Anja kurzerhand eine Company – EllementArts. In einer Woche Residency und einer weiteren Probenwoche entstand die zweite, weiterentwickelte Version von „Dancing Water Drops“. Zuvor hatte Anja die gesamte Musik komponiert. In den zwei Wochen im gesamten Team ging es vor allem um die Gruppenszenen. Eine Choreografin stieß dazu für die Tanzszenen, denn mit zwei Tänzerinnen im Cast nimmt der Tanz in der Show einen wichtigen Teil ein.


Premiere war im 25. Mai 2023 in La Chaux-de-Fonds, es folgten Vorstellungen. Im selben Jahr wurde das Stück noch an weiteren Orten aufgeführt. Um flexibler bei der Wahl der Orte zu sein, entwickelten sie noch eine Outdoor-Version. In Dänemark wurde das Stück sogar „site-specific“ unter Einbeziehung eines Baums aufgeführt, dessen Ast als Hängepunkt für die Luftakrobatik diente. Auch wenn der Bezug zur Natur gut zum Inhalt des Stücks passt, gilt Anjas Präferenz der Theaterbühne, wo sich mehr mit der „Magie des Lichts“ arbeiten lässt.


Impressionen von der Outdoorversion des Stücks.

Der Inhalt von „Dancing Water Drops“ hat für Anja mehrere Ebenen, was die gute Resonanz des Stücks bei verschiedenen Publikumsschichten erklärt. Die erste Ebene ist die Geschichte in Analogie zur Natur – der Kreislauf des Wassers. Aus dem schmelzenden Gletscher wird ein Bergbach, daraus entsteht ein Fluss, der dann ins Meer mündet, wo das Wasser verdunstet. Gleichzeitig beschreibt es den Kreislauf des Lebens. Schmelzen ist wie die Geburt, dann folgt die Kindheit, das Heranwachsen, das Verdunsten ist wie der Tod.

In der Kreation spielte zudem der Klimawandel eine wichtige Rolle, die Emotionen, welche die Thematik bei den jungen Künstlerinnen weckt. Es geht um die Schönheit der Natur und den Wert der Ressource Wasser im Kontrast zu Verschmutzung und Zerstörung und deren Konsequenzen für den Menschen. So ist eine große Folie aus Plastik, die kunstvoll im Wechselspiel mit der Artistik umherwirbelt, vordergründig von großer Schönheit, steht aber zugleich für die Verschmutzung der Meere.


Das Spiel mit der Plastikfolie verkörpert Schönheit und Zerstörung zugleich. (c)Nicolas Vincent
Das Spiel mit der Plastikfolie verkörpert Schönheit und Zerstörung zugleich. (c)Nicolas Vincent

„Dancing Water Drops“ entführt das Publikum in eine magische Wasserwelt und macht zugleich auf eine sehr poetische, berührende Weise auf wichtige Themen unserer Zeit aufmerksam. So öffnet das Stück Raum für diverse Interpretationen und Diskussionen. Auf die letzte Aufführung im Rahmen der Nuit du Cirque im Zirkus Salto in Hannover 2024 folgte ein einstündiges Publikumsgespräch – so viel Resonanz fand die Kreation beim Publikum.

Auffallend an „Dancing Water Drops” ist der rein weibliche Cast. Dies ist eine bewusste Entscheidung, wie Regisseurin Ingrid Adler erklärt: „Die Verbindung zwischen Weiblichkeit und Wasser bildet eine schöne Symbiose, auch aus kunstgeschichtlicher Sicht. Es existieren viele Mythen, in denen Wasser eine weibliche Eigenschaft zugeschrieben wird.“


So wie das Wasser, ist auch das Stück in einem ständigen Fluss begriffen. Die im letzten Jahr in Hannover aufgeführte Version enthielt bereits neue Aspekte gegenüber der Premierenversion. „Wir haben uns viel mit weiblicher Energie und Natur befasst“, erklärt Anja. Eine ihrer Motivationen sei auch, eine Plattform und einen Safe Space für weibliche Performerinnen zu bieten und weibliche Kraft zu zeigen. Doch die Weiterentwicklung des Stücks erfolgt nicht nur aus dem Team selbst heraus, sondern auch durch das Publikum. An jedem Spielort liegt ein Feedback-Buch am Ausgang bereit, in das das Publikum seine Eindrücke und Anregungen schreiben kann. Auf jede Aufführung folgt ein Debriefing im Team, um das Feedback aufzunehmen und einzuarbeiten. Es ist ein wohltuend publikumszentrierter Ansatz in einer Welt des zeitgenössischen Zirkus im deutschsprachigen Raum, die sich allzu oft primär um sich selbst dreht.


Trailer der Show "Dancing Water Drops"

Man darf also gespannt sein, wohin die Strömung die „Dancing Water Drops“ noch treiben wird. Die nächste Station jedenfalls wird das Berliner Pfefferberg-Theater sein – zur Nuit du Cirque am 14. Und 15. November.

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