Generationenwechsel - mit Vivian Paul im Gespräch
- Daniel Burow
- 17. Apr.
- 6 Min. Lesezeit

Vor drei Jahren hatte ich die Ehre, eine Podiumsdiskussion zu moderieren mit den „starken Frauen des deutschen Zirkus“. Gemeint waren Stephanie Probst vom Circus Probst, Larissa Kastein von Flic Flac, Lara Cabello vom Varieté et cetera und Vivian Paul vom Circus Roncalli. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie sind Juniorchefinnen der von ihren Eltern gegründeten Betriebe. Zwei Dinge, die andernorts nicht gerade selbstverständlich sind, sind in der Zirkusbranche Realität: Generationenwechsel in Familienbetrieben und Frauen, die das Ruder übernehmen.
Nun traf ich Vivian Paul, die besser unter dem Kurznamen Vivi bekannt ist, zum Tourneeauftakt von Roncalli in Oberhausen. Im Jahr vor dem fünfzigsten Jubiläum des Unternehmens sprachen wir darüber, wie sie ihre Rolle als Nachfolgerin ihres berühmten Vaters Bernhard Paul, gemeinsam mit ihren Geschwistern Adrian und Lilly Paul, gesucht und gefunden hat.
Während wir über ihr Aufwachsen im Zirkus sprechen, beginnen um uns herum im Zelt die Vorbereitungen zur Nachmittagsvorstellung; wir sitzen in einer der prunkvoll verzierten Logen, auf mit rotem Samt gepolsterten Stühlen. Als Teenagerin hatte Vivi auch ihre Phase, in der sie sich dachte „Ich will diese ganzen Kringel nicht, ich will es modern“, gesteht sie. In dieser Zeit war sie sich unsicher, wohin ihr Weg sie einmal führen und welche Rolle der Zirkus dabei spielen würde.

Bis zur siebten Klasse besuchte sie die Zirkusschule, die Lehrerin reiste mit Roncalli von Stadt zu Stadt. Danach musste sie vom Zirkus weg, um in Köln, dem Sitz des Winterquartiers, eine öffentliche Schule zu besuchen – für ihre Mutter, die aus der traditionsreichen italienischen Zirkusfamilie Larible stammt, ein Drama. Im Zirkus auf Reise war es selbstverständlich, sich auszuprobieren, verschiedene Zirkusdisziplinen zu erkunden. Doch in Köln allein in der kalten Halle des Quartiers weiter zu trainieren, dazu fehlte Vivi die Muße.
Als sie dann mit 18 wieder zurück zum Zirkus kam, musste sie erstmal wieder rein kommen in das Zirkusleben. „Ist ja eigentlich ganz lustig hier, da überlege ich mal, was ich hier mache“, rekapituliert sie ihre Einstellung. Das war zunächst einmal all das, was sich in der Manege machen lässt. Mit den anderen Youngstern am Zirkus wirkte sie in einem „New Generation“-Opening und bei einer neu einstudierten Rollschuhnummer mit, daneben trainierte sie am Luftring.

Irgendwann erinnerte sie sich dann an die Worte ihres Vaters, die er dem Nachwuchs schon während der Kindheit mit auf den Weg gab: „Artisten kann ich engagieren, aber ihr müsst auch Sachen lernen, die mir irgendwann nutzen“. Also fasste sie den Plan, eine Tournee auszusetzen und im Winterquartier alle Bereiche kennenzulernen.
Die „heiligen Hallen“ in Köln Mühlheim sind das Herz von Roncalli – eine wahre Traumfabrik, von Vivi nüchtern „WQ 1“ genannt. Hier werden die historischen Zirkuswagen restauriert, nostalgische Holzzäune neu lackiert; von hier aus werden die inzwischen weit gefächerten Aktivitäten vom Firmenevent bis zum Weihnachtsmarkt koordiniert. Hier sollte also für Vivi der Schlüssel dazu liegen, die so wichtigen Abläufe hinter den Kulissen zu erlernen. Was Vivi damals nicht wissen konnte: Der ganze Zirkus würde mit ihr zusammen eine Pause einlegen – es war das Jahr der beginnenden Pandemie. Mitarbeiter mussten damals schweren Herzens nach Hause geschickt werden, plötzlich lag eine Stille über dem sonst so betriebsamen Ort.

Auch wenn sie so vorerst nicht viel von den Betriebsabläufen lernen konnte, so lernte sie rückblickend doch etwas noch Wichtigeres: „Da habe ich erst gemerkt, wie wichtig es mir eigentlich wirklich ist, dass es herzzerreißend wäre und ich gar nicht mehr wüsste, was ich in meinem Leben machen soll, wenn es den Zirkus nicht mehr gäbe.“ So war Vivi in ihrem Entschluss gefestigt, alles dafür zu tun, einmal in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten: „Wenn man die Angst hat, alles zu verlieren, was dein zu Hause ist, dann gibt dir das nochmal einen anderen Anstoß.“
Ihr Vater war anfangs noch skeptisch drüber, wie ernst es ihr war, gesteht sie. Doch als sie dann auch unschöne Aufgaben wie das Aus- und Aufräumen des umfangreichen Kostümfundus mit viel Einsatz durchzog, brachte ihr das seine Anerkennung ein.
Es sollten neue Aufgaben folgen. Zirkus ist „Learning by Doing” – und am meisten konnte Vivi im Büro lernen. Sie stieg in die Castingabteilung ein, der erste operative Job – und für Vivi genau der richtige: „Wenn man im Casting ist, ist man zentral, man ist mit bei den Events dabei, beim Zirkus, beim Apollo-Varieté, man bekommt viel drumherum mit.“
Mit ihren beiden Geschwistern hat Vivi eine gute Aufgabenteilung gefunden. Lilly reist nach ihren öffentlichkeitswirksamen Erfolgen bei der TV-Show „Let’s Dance“ viel, hat über ihre diversen Tätigkeiten in der Medienwelt eine Affinität zu Marketing und Social Media entwickelt. Adrian ist fast ausschließlich beim Apollo-Varieté, wo er immer im Frühjahr Regie für die Show führt.

Vivi ist froh, dass die Last des Generationenwechsels nicht nur auf ihr allein liegt. „Was mein Vater aufgebaut hat, kann man nicht mehr in einer Person fassen.“, stellt sie fest. Manchmal sage er „wir sind doch nur ein Zirkus“, doch sei Roncalli längst viel mehr, viel komplexer geworden. Es sind viele Bereiche abzudecken – und eins bleibt dabei eine besondere Herausforderung: „Er ist auch eine Persönlichkeit, das kann man sich nicht aneignen oder lernen, das sind große Fußstapfen.“
Während das Tourneeprogramm des Zirkus das Heiligtum ist, in dem alle Entscheidungen bei Bernhard Paul liegen, bietet das Apollo-Varieté eine Art „Probemanege“, wie Vivi es ausdrückt. „Früher haben wir auch im Apollo jeden Act freigeben lassen“, erzählt sie, „das müssen wir inzwischen nicht mehr.“ Das größere Maß an Freiheit ist auch der Herausforderung geschuldet, immer neue Shows zusammenzustellen. „Er mag z.B. keine Messerwerfer“, verrät sie, „aber er versteht, mit vier Shows pro Jahr gehen irgendwann die Genres aus.“ Doch eines ist für Vivi klar: „Das letzte Wort hat für mich immer mein Vater. Wenn er sagt, das passt mir so nicht, dann wird das auch nicht gemacht.“ Das falle ihr aber leicht zu akzeptieren, weil sie seine Entscheidungen immer verstehe.
Bei einem Generationenwechsel stellt sich unweigerlich die Frage nach Kontinuität versus Veränderung. In den fünfzig Jahren Roncalli bestand die Kontinuität ja gerade darin, dass Bernhard Paul immer wieder Ideen und Visionen hatte. Stehen zu bleiben, ein noch so erfolgreich etabliertes Konzept einfach zu konservieren, kann da nicht der Weg sein. Doch der Markenkern Roncallis, das nostalgische Erscheinungsbild, wird unangetastet bleiben, da ist sich Vivi sicher. Im theaterhaften, von aufwändiger Dekoration geprägten Ambiente sowie in den poetischen Momente sieht sie wichtige Unterscheidungsmerkmale: „Es gibt viele Facetten von Zirkus und da muss man sich fragen ‚Was für ein Zirkus bin ich?‘“.

Von Rivalität dagegen will Vivi nichts wissen. So freue sie sich etwa immer, wenn sie Larissa Kastein sieht: „Wir sind eine neue Generation, wir sollten zusammenarbeiten, wir sind befreundet.“ In der aktuellen Show im Apollo-Varieté führt Flic-Flac-Spross Tom Kastein Regie.
Eine Herzensangelegenheit von Vivi sind die Kostüme. In ihrer Kindheit war sie verliebt in die opulenten Kleider des Rokkoko-Bilds, das Mitte der 90er-Jahre ein optisches Highlight der Roncalli-Programme war. Beim Aufräumen des Fundus entdeckte sie die Kostüme, die ihre besten Tage gesehen hatten, und rettete sie für Roncallis New-York-Gastspiel. Inzwischen ist unter ihrer Ägide ein neuer Fundus und Roncallis erste Kostümwerkstatt entstanden.
Nicht nur hier möchte Vivi eigene Akzente setzen: „Ich denke schon länger darüber nach, wie wir mehr Acts komplett produzieren könnten.“ Ihr Traum ist ein Ort, an dem geprobt werden kann, Requisiten und Kostüme genau für den Act angefertigt werden. „Früher haben wir mehr Original-Roncalli-Nummern produziert, da will ich wieder hin“, setzt sie sich als Ziel.
Gerade wechselt sie aus dem Casting in eine neue, übergeordnete Rolle, in der sie ihr Wissen erweitern möchte. Sie will mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen, etwa bei den Pressekonferenzen auf der Tournee, und ihn bei der Umsetzung seines nächsten Herzensprojekts unterstützen: dem Jubiläumsprogramm im kommenden Jahr. „Vor allem beim Jubiläum ist es ihm extrem wichtig, dass jede Entscheidung von ihm getroffen wird, und seine Vision dargestellt wird“, erklärt Vivi, „da sind wir in sehr enger Kommunikation.“ Es gibt eben Dinge, in die lässt sich der Gründer verdientermaßen nicht reinreden.
Doch sind die Weichen, das wird in unserem Gespräch deutlich, ohnehin auf Kontinuität gestellt. Während um uns herum die Betriebsamkeit zunimmt, Requisiteure im roten Livree die Logenstühle zurechtrücken und die Artisten Vivi im Vorbeigehen ein herzliches „Hallo“ oder „Ciao“ zuwerfen, festigt sich der Eindruck: Hier ist sie ganz in ihrem Element. Da muss einem um die nächsten fünfzig Jahre Roncalli wahrlich nicht bange sein.
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