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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

AutorenbildDaniel Burow

Alessandro Serena – Brückenbauer zwischen den Zirkuswelten

Alessandro Serena ist den Wurzeln des Zirkus verbunden und offen für dessen neuen Formen.

Spross einer berühmten italienischen Zirkusfamilie, Professor für Zirkus und Straßenkunst an der Universität Mailand und erfolgreicher Produzent international tourender Zirkus-Bühnenshows – all das ist Alessandro Serena, und darüber hinaus ein überaus sympathischer Gesprächspartner. Es ist diese selten anzutreffende Verbindung aus Verbundenheit für die Wurzeln des Zirkus und Offenheit für seine neuen Entwicklungen, die jede Unterhaltung mit ihm interessant macht.


Die Wurzeln des Zirkus, der klassische Zirkus, sind auch Alessandros Wurzeln. Seine Tante ist die legendäre italienische Zirkuskönigin Moira Orfei. Deren Mann Walter Nones trat einst in einem Akrobatik-Trio zusammen mit Alessandros Mutter auf. Sie hatten in Revuen und Nachtclubs gearbeitet, bevor Walter Nones und und Moira Orfei ihren eigenen Zirkus gründeten. Moira war früh zum Ruhm und Erfolg als Schauspielerin gelangt und steckte fortan jede Filmgage in den Auf- und Ausbau des Zirkus.


Kindheit im Circo Moira Orfei

Hier wuchs Alessandro auf, der Zirkus war für ihn als Kind und Teenager der beste Ort. Umso weniger glücklich war er, als seine Eltern ihn auf die höhere Schule schicken wollten. Der Zirkus habe schon genug gute Artisten oder Reiter, einen Buchhalter könnten sie brauchen. Artist wollte der junge Alessandro nicht werden, es war weniger der Reiz der Kunst als die Art zu Leben, die er am Zirkus schätzte. Doch er folgte dem Wunsch der Eltern und ging nahe Venedig, wo der Zirkus sein Winterquartier hatte, zur Schule. Dort lebt er noch heute.


Die Schule fiel ihm, der zuvor immer auf der Reise war, nicht leicht. Die Zeit an der Universität dagegen genoss er sehr. Er studierte an der Universität von Bologna Darstellende Künste. Buchhaltung war also doch nicht seins, er ließ sich vielmehr im künstlerischen Bereich inspirieren von Professoren wie Umberto Eco. Zur gleichen Zeit expandierte der Zirkus Moira Orfei. Es waren erfolgreiche Zeiten, das 4000 Personen fassende Zelt war regelmäßig zweimal am Tag voll. Als Giuseppe Nones 1987 als erster Italiener den begehrten Goldenen Clown in Monte-Carlo mit seiner Tigergruppe gewann, assistierte Alessandro außerhalb des Käfigs zusammen mit seinem Cousin.


Ende der 1980er begann der Zirkus damit, Fernsehshows über Zirkus zu produzieren. Alessando war Mitte Zwanzig, als sein Onkel Walter Nones ihm anbot, die Produktion dieser Shows zu übernehmen. Im ersten Jahr stammten alle Acts aus den Programmen der großen italienischen Zirkusse. Dann begann Alessandro quer durch die Welt zu reisen, um Darbietungen zu casten, von China bis Kanada, von Nordkorea bis in die Mongolei. Top-Artisten aus aller Welt holte er nach Mailand, wo die TV-Shows produziert wurden.


Alessandro Serena 1994 mit David Larible beim "Gran Premio del Circo i Genova"

Später entschloss er sich dazu, sich kleineren Produktionen zuzuwenden und seine eigene Firma zu gründen. Heute finden seine Showproduktionen unter dem Dach der Firma "Mosaico Errante" statt. Ein wichtiger Schritt war die Arbeit mit der Biennale von Venedig. Dort erkannte man, dass Cirque Nouveau in Frankreich immer populärer wurde, und nahm Kontakt zu Alessandro auf. Beginnend im Jahr 2000 sollte er für vier Jahre Cirque Nouveau zur Biennale bringen. Das brachte ihn in Kontakt mit vielen Theaterdirektoren, mit Choreographen, Künstlern. Als künstlerischer Leiter brachte er 2001 die Show „Ombre di Luna“ (Schatten des Mondes) auf die Bühne, eine der wegweisenden Cirque-Nouveau-Produktionen Italiens. Die Zeilen aus einem Interview mit dem „Juggling Magazine“ damals zeugen von der Pionierarbeit: „‘Regiezirkus‘, ‚Neuer Zirkus‘, ‚Avantgarde-Zirkus‘, ‚Experimenteller Zirkus‘ – Diese umfassende Etymologie vermittelt eine Vorstellung davon, wie umfassend und zerklüftet das Phänomen ist. Das bedeutet, dass das Publikum eines Tages auch in Italien zwischen verschiedenen Zirkusarten wählen und nicht nur wegen der Ankunft eines Zelts in den Zirkus gehen kann.“


Bei seinen eigenen Produktionen vermeidet Alessandro es, von zeitgenössischem Zirkus zu sprechen. „Ich war immer in populäre Shows involviert; ich spreche von Theaterzirkus, denn zeitgenössischer Zirkus als Sprache meint etwas anderes“, erklärt er. Aus Produktionssicht sei es jedoch vergleichbar, er toure mit Shows durch Theater, arbeite mit eher kleinen Casts. Nicht nur dadurch sieht sich Alessandro als Brücke zwischen den Zirkusarten. Das berge aber auch Gefahren. „Im Krieg ist eine Brücke das erste, was unterbrochen wird“, sagt er und bezieht sich auf die Gräben, die zwischen den Zirkusformen existieren: „Meine Verwandten aus dem klassischen Zirkus mögen den zeitgenössischen nicht und dem zeitgenössischen Zirkus ist der klassische egal.“ Ihm selbst ist die Lobbyarbeit für den Zirkus wichtig. Er ist sowohl im „Ente Nazionale Circhi“ aktiv, dem traditionsreichen Verband für klassischen Zirkus in Italien, als auch Mitbegründer des italienischen Verbands für zeitgenössischen Zirkus. Auf Basis seiner Aktivitäten an der Universität von Mailand wurde das Projekt "Open Circus" ins Leben gerufen, das sich der Verbreitung der Zirkuskultur widmet, mit Unterstützung vom Ministerium für Kultur.


Vielleicht entspringt Alessandros Offenheit auch aus seinen fundierten Studien über die Zirkusgeschichte. Denn, so ist Alessandro überzeugt, Zirkus war in der Vergangenheit viel breiter gefasst, als heute manchmal scheint. Vor einigen Jahren hat er mit Antonio Giarola zusammen ein Buch über Zirkus in Verona im 18. Und 19. Jahrhundert herausgegeben. Sie trugen Plakate, Verträge mit der Stadt und Zeitungsberichte zusammen, um sich ein Bild von der Zirkuskultur dieser Zeit zu machen. „Zirkus war damals überall, nur sehr selten im Zelt“, stellt er fest und spricht u.a. von Theatergastspielen internationaler Artistengruppen, „in der Geschichte waren Zirkustechniken unabhängig.“


Bei der Vorstellung seines Buchs über die Zirkusgeschichte Veronas

Ein tiefes Verständnis der Ursprünge, der Geschichte, ist Alessandro ein Anliegen. Regelmäßig publiziert er Bücher und Zeitschriften zu historischen Themen. Doch er relativiert sogleich: „Ich liebe die Geschichte des Zirkus, aber ich bin nicht sicher, ob es wichtig ist. Denn 80% derer, die heute im zeitgenössischen Zirkus arbeiten, wissen gar nichts über Zirkusgeschichte und machen trotzdem gute Shows.“


Gute Shows machen, das kann auch Alessandro damals wie heute. Und auch dabei gelingt ihm der Brückenschlag: Seine „Black Blues Brothers” waren sowohl beim Zirkusfestival von Monte-Carlo als auch – mit großem Erfolg – mehrmals beim Edinburgh Fringe Festival. Wo kommt der Erfolg her? Eine Strategie habe er nie verfolgt, die Strategie sei es, nach dem Besten zu streben und Zirkus auf die Bühne zu bringen. Die „Black Blues Brothers“ entstanden aus einer Kooperation mit einer Zirkusschule in Nairobi, die im Social-Circus-Bereich aktiv ist. Damals traten alle Artisten im afrikanischen Stil auf, da wollte er etwas Neues ausprobieren, schlug den Stil der „Blues Brothers“ vor und sie kreierten die Show zusammen.


Die Black Blues Brothers beim Edinburgh Fringe Festival (c)Roberto Ricciuti

„Die Show war OK, wir hatten Glück, einen Auftritt in einem schönen Theater in Rom zu bekommen“, gibt sich Alessandro bescheiden. Dort schrieb völlig unerwartet der renommierteste Theaterkritiker Italiens eine überschwängliche Rezension und ebnete damit den Weg zum Erfolg. Dieser ist untrennbar mit Edinburgh verbunden, auf dem Fringe schlug die Show ein. Sie hatte das gewisse „Momentum“, wie es oft genannt wird. „Edinburgh ist unvorhersehbar. Wir arbeiteten sehr hart an der Show, aber ich kann letztlich nicht sagen, warum sie so erfolgreich war“, erzählt Alessandro, „Wenn dir jemand erklären will, wie es in Edinburgh funktioniert, glaube ihm nicht.“


Wenn all der Erfolg Glück sein sollte, dann hat Alessandro so einiges davon. Denn er ist als Produzent gut im Geschäft. Die „Black Blues Brothers” touren mit zwei Shows, ebenso der Starclown David Larible und das ukrainische Pantomime-Ensemble DEKRU. Mit seinem Freund Raffaele de Ritis produziert er mit der “Gran Gala du Cirque“ hochwertige Nummernprogramme mit einigen der besten Artisten der Welt. Weitere Projekte sind in Planung. Mit den „Black Blues Brothers“ möchte er in einer weiteren Produktion die afrikanischen Wurzeln der Artisten erkunden. Mit südamerikanischen Artisten arbeitet er an einem vom kolumbianischen Schriftsteller Gabriel García Márquez inspirierten Showprojekt. Und zusammen mit seinen Cousins entwickelt er Ideen für eine Produktion über Moira Orfei mit den Mitteln des modernen Zirkus.


So schließt sich nicht nur der Kreis zwischen den Zirkusformen, sondern auch der zwischen den verschiedenen Welten, in denen sich Alessandro Serena in seinem Leben bewegt. Auf die Frage nach dem Verbindenden zwischen all den Spielarten des Zirkus, antwortet er mit einem wunderbaren Schlusswort: „Zirkus ist so reichhaltig und schön. Wenn du Zirkus machst, braucht er all deine Energie, er ist der Grund zu leben.“

 

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