Artisten sind schon ein besonderer Menschenschlag. Sie führen ein Leben auf der Reise, Grenzen gibt es für sie kaum. Doch es gibt Biografien, die stechen selbst aus diesem schon illustren Kreis heraus. Dazu gehört diejenige von Molly Saudek. Die Seiltänzerin scheint bei fast sämtlichen prägenden Momenten und Entwicklungen der jüngeren Artistikgeschichte im Zentrum des Geschehens gewesen zu sein. Und doch ist sympathische Amerikanerin, die seit nunmehr 18 Jahren in ihrer Wahlheimat Paris lebt, frei von jeder Eitelkeit. Ich traf sie zum Gespräch im Tigerpalast, wo sie gerade mit einem Seiltanzduo zusammen mit Florent Blondeau engagiert ist.
Mollys Lebensweg klingt wie ein modernes Circusmärchen. Es war einmal ein Kind im ländlichen Vermont. Der Zufall wollte es, dass der erfolgreiche Clown Rob Mermin just hier seinen Circus Smirkus gründete und Kinder aus der Region zu einem Casting einlud. Casting ist wohl das falsche Wort. “Wir konnten nichts”, stellt Molly lachend fest. Doch wenn Talent auf Visionär trifft, kann Großes entstehen, wie sich später zeigen sollte.
Drei Wochen Training und eine Zelttournée später, im zweiten Jahr von Smirkus, entschloss sich Mermin Ende der 1980er, mitsamt seinen Nachwuchsartisten, inmitten der Perestroika, in die Sowjetunion aufzubrechen – weil es dort die besten Circustrainer der Welt gab, wie er überzeugt war. So liefen Molly und ihre Mitreisenden eines Tages am Circusgebäude von Jaroslaw vorbei und lasen auf einem Poster: „Russisch-Amerikanischer Jugendcircus – Morgen 15 Uhr“. Jetzt wurde ihnen klar, dass sie eine Show spielen sollten.
Dazu fällt Molly eine Anekdote ein. Da keine Zeit war, ihre Trapeznummer vorher zu proben, stand sie während der Show plötzlich inmitten der großen Manege und sah ein Trapez mit Motorwinde über sich. Ein Trapez, das sich herunter zu ihr bewegt, so etwas hatte sie noch nie gesehen. Also faste sie es und sie bewegte sich hoch – „und höher und höher, und immer höher“. Unten sah sie zwei starke Männer, die würden sie schon fangen, dachte sie in jugendlichem Leichtsinn und zeigte einfach ihre Nummer. Erst später erfuhr sie, wie Rob Mermin währenddessen Backstage in Panik verfiel: „Holt sie runter, holt sie runter!“
Die 4-5 Jahre bei Smirkus waren für Molly prägend. Von Guennadi Totokov, ihrem ersten Trainer am Trapez, lernte sie, wie man arbeitet, wie man etwas kreiert. Doch früh schon wechselte sie vom Trapez auf das Drahtseil. „Ich dachte, auf dem Seil kannst du eigentlich alles machen, was du auch auf dem Boden machen kannst“, erklärt sie ihre Leidenschaft, „da ist es möglich, Bewegung zu kreieren.“ Außerdem reizte sie der mentale Aspekt - „It’s very balancing“ – im wahrsten Sinne des Wortes.
Als sie an die Circusschule in Montreal kam, wusste Molly sofort, was sie will, verbrachte fünf bis sechs Stunden täglich auf dem Seil. Erst ein Jahr auf der Schule, weckte ihre Arbeit Interesse beim Cirque du Soleil und sie wurde mit einem Solo-Seiltanz-Act für die Show Alegria gecastet. Es muss eine aufregende Zeit gewesen sein – Cirque du Soleil war getrieben von großen „Träumern und Denkern“, wie sie es ausdrückt; als junge Studentin tourte sie ein Jahr durch Asien. Doch was sie für sich mitnahm, war besonders die Erkenntnis, dass die Art der Arbeit nicht ihr Ding war. „Ich fühlte mich, als ob mein Stil auf dem Seil zu tanzen auf eine Weise choreografisch genutzt wurde, die nicht die von mir gemeinte war“, begründet sie. Choreografie bedeute für sie mehr, als Raum um einen Trick zu erzeugen. Vielmehr wähle sie die Tricks danach aus, was sie aussagen möchte, und versuche nicht alle Tricks in einem Act unterzubringen.
Nach der Tour mit Alegria steckte sie ihre ganze Energie in die Kreation ihres eigenen Solo-Acts. Die Belohnung sollte 1998 folgen, in Form der Silbermedaille beim Festival „Cirque de Demain“ Paris, damals noch im Cirque d’Hiver. Kurz nach einem ihrer Festivalauftritte, erinnert sie sich, kam Backstage eine Frau auf sie zu – es war Margareta Dillinger mit Johnny Klinke im Schlepptau. Sie boten ihr einen Vertrag in ihrem Tigerpalast an, der komplett in deutscher Sprache verfasst war. Ihr Vater rat ihr ihn keinesfalls zu unterschreiben, sie verstehe ja nichts. Doch Molly erwiderte schlicht: “Ich denke, die beiden sind ziemlich cool, und vom Tigerpalast hab ich schon gehört“ – der Vertrag war noch vor dem Showfinale unterzeichnet, auch gegen des Vaters Bedenken.
Sie sollte in der Show das Duo Mouvance mit ihrem legendären Trapez-Tango ablösen – zu Große Fußstapfen für die junge Molly, dachte sie mit Ehrfurcht. Hinzu kamen erschwerte Bedingungen für Seiltänzer im kleinen Publikumsraum – mit Stufen auf dem Boden und Publikum nur einen Meter vom Seil entfernt. Sie musste ihren Rückwärtssalto aus der Nummer nehmen, der doch ihr spektakulärster Trick war. Doch für Margareta Dillinger kein Problem, für sie war der Tanz ohnehin wichtiger. Die beiden verstanden sich. Es sollten bis heute 26 Jahre folgen, in denen Molly dem Tigerpalast verbunden ist, immer wieder in Frankfurt auftritt – „Es ist mein zweites Zuhause“.
Kurz darauf nahm Mollys Weg wieder eine unerwartete Wendung. Im Anschluss an „Cirque de Demain“ tourte sie mit dem New Yorker Big Apple Circus. Dann kam ein Anruf aus Stockholm. Da gab es eine kleine Gruppe, die Circus im Rock-Stil machte - „großartige Leute“, wie ihr versichert wurde. Es war die Anfangszeit von Cirkus Cirkör, der heute renommiertesten zeitgenössischen Circus Company Schwedens. Vom großen etablierten Circus in der amerikanischen Heimat zu einer kleinen Gruppe Alternativer in Europa, die den Circus revolutionieren wollte, inkl. Rockband auf der Bühne? Molly entschied sich, nach Schweden aufzubrechen. „Da war dieses Gefühl, dass alles möglich ist auf der Bühne“, schwärmt sie noch heute. Sie ging also nach Stockholm und wirkte in der Show Trix mit, die zum Durchbruch der Company werden sollte.
Fortan wechselte Molly immer wieder hin und her zwischen ihren „Parallelleben“, wie sie sie selbst nennt. Sie arbeitete einerseits mit ihrer klassischen Nummer im Tigerpalast, im Wintergarten oder im Moskauer Nikulin Circus. Andererseits trat in zeitgenössischen Produktionen auf und begann mit choreografischer Arbeit. 2005 fragten Agathe Olivier und Antoine Rigot sie, ob sie in ihrer Compagnie Les Colporteurs an der Realisierung eines Traums vieler Seiltänzer mitwirken möchte, einer Show nur mit Seiltanz. Sie sagte zu. Es entstand die Produktion „Le Fil sur la Neige“, die der Tigerpalast 2009 nach Frankfurt ins Bockenheimer Depot holte. Hier trafen sich die beiden Parallelleben.
Heute gibt sie jungen Artisten den Rat, alles auszuprobieren. „Du wirst nichts neu erfinden, wenn du nicht alle Parameter kennst“, sagt sie, „ob du vom traditionellen oder vom zeitgenössischen Circus kommst, sage ja zum jeweils anderen. Wenn jemand ein interessantes Angebot macht, probiere es aus.“ Wenn man dann seinen Weg gefunden habe, könne man anfangen nein zu sagen zu Angeboten, die einen künstlerisch nicht weiterbringen.
Mollys scheint wie ein Leben aus einer Traumvorstellung – bis 2012 ein Schicksalsschlag kam. Sie war auf Saison im Budapester Hauptstadtcircus engagiert, war gerade zwei Wochen auf Heimaturlaub in den USA. Da wurde sie von einem Auto angefahren, schwebte in Lebensgefahr. Es war großes Glück zu überleben, doch ließen die Verletzungen sie auf einem Auge fast ihr komplettes Sehvermögen verlieren. Wie soll man ohne räumliches Sehen je wieder auf dem Seil laufen? „Ich hatte Glück, aber ein Teil von mir schrie das Universum an: ‚Du wirst nicht entscheiden, wann ich damit aufhöre. Ich werde das selbst entscheiden!‘“, erinnert sie sich an die tragischen Momente nach dem Unfall.
Dem Cirque Plume, bei dem sie ihr nächstes Engagement haben sollte, sagte sie, sie sei unsicher, ob sie je wieder würde auftreten können. Doch der Circus machte ihr Mut, wollte, dass sie auf jeden Fall kommt. Und so lernte Molly sich anzupassen, auf manche Tricks zu verzichten, die nicht mehr möglich waren. Aber sie kämpfte sich zurück, steht bis heute auf dem Seil.
Inzwischen ist sie in ein Alter gekommen, das sie nach Alternativen zum Auftreten als Artistin suchen lässt. „Ich möchte aufhören, wenn mir danach ist, andere Dinge zu tun, nicht wenn mein Körper mich dazu zwingt“, so lautet ihre Devise. Dabei scheinen der Kreativität abermals keine Grenzen gesetzt. Seit fünf Jahren baut sie jedes Jahr Holzboote in Maine, gesteht sich jedoch lachend ein, dass daraus wohl nicht ihr Hauptjob wird. Sie widmet sich der Regie und Choreographie, lehrt an Circuschulen wie der Academie Fratellini in Paris, absolvierte selbst einen Master in neuen performativen Praktiken in Stockholm und ist seit 2018 Teil der künstlerischen Jury von CircusNext. Neben all dem ist sie weiterhin auf dem Seil zu erleben, nicht nur im Tigerpalast, sondern auch auf Tour mit den Les-Coporteurs-Shows Méandres und Coeur Sauvages.
„Ich bin ein Stück weit wieder da angekommen, wo ich zu allem ja sage“, stellt sie mit einem Augenzwinkern fest. Wenn das so ist, dann dürfen wir wohl noch viel Interessantes von Molly Saudek erwarten.
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