Mit Anke Politz im Gespräch – Entwicklung des zeitgenössischen Zirkus in Deutschland
- Daniel Burow
- 17. Juni
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juni

Wenn du einen Lagebericht zum zeitgenössischen Zirkus in Deutschland 2025 abgeben müsstest, wie würde der ausfallen?
Ich habe das Gefühl, dass wir eine wirklich große Wiese geworden sind, wo viel wächst und auch eine sehr große Artenvielfalt entsteht. Ich sehe, dass nicht zuletzt durch die Förderungen der letzten Jahre viel mehr Kompanien angewachsen sind. Alles ist reicher und vielfältiger. Reich nicht im monetären Sinne, sondern im inhaltlichen. Es sind mehr Kompanien in Deutschland unterwegs. Das war ja immer so eine Art Lücke auf der Landkarte, wenn es ums Touring ging. Mehr Spielorte bringen zeitgenössischen Zirkus ins Programm, immer mehr Öffnungen passieren.
Das ist mein sehr positiv gezeichnetes Fazit, denn gleichzeitig stehen wir als Teil der freien darstellenden Künste vor enormen Herausforderungen. Die drastischen Kürzungen aller Kulturetats und die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich jenseits unserer freiheitlichen und demokratischen Werte bewegen, tragen zu noch mehr Spaltung und Entfremdung in einer Gesellschaft bei, die gerade jetzt Kultur als brückenbauende Kraft bräuchte.
Neben deiner Arbeit als Intendantin des Chamäleon Theaters Berlin engagierst du dich auch im Vorstand des „Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus“, bist kulturpolitisch aktiv. Welche Ziele haben dich dazu bewogen, was hast du dir in der Verbandsarbeit vorgenommen?
Mir ist es wichtig, die Arbeits- und Rahmenbedingungen für Künstler*innen im Kulturbetrieb zu verbessern. Kein Mensch kommt in ein Theater, weil die Räume so schön gestaltet sind, sondern Menschen kommen zu uns, weil sie das Bühnenprogramm sehen wollen. Und es ist absurd, dass so oft genau die Menschen, die diese Wertschöpfung erbringen, die unsichersten Arbeitsverhältnisse haben und meist auf sich gestellt sind. Ob ganzheitliche Systeme, die Proben, Trainings und administrative Arbeiten berücksichtigen, Altersvorsorgen oder bezahlbare Versicherungssysteme. Es gibt im künstlerischen Arbeiten noch viel Luft nach oben.
Denn grundsätzlich ist es so, dass die Wertschöpfung schon beim Trainieren jeden Tag beginnt und sich über so viele Etappen und oft nicht vergütete Arbeitsschritte zieht, bis wir schlussendlich ein fertiges Stück auf einer Bühne sehen. Das sind alles Dinge, die nicht vergütet werden bzw. die in Vorleistung erbracht werden müssen. Um das zu verbessern, braucht es viel Veränderung - nicht nur im Zirkus. Aber hier machen gleichberechtigte Zugänge zu Förderstrukturen für den Zirkus schon einen riesigen Unterschied. Durch mehr Ressourcen kann er resilienter und mutiger werden.
Im tiefsten Herzen bin ich der Meinung, dass zeitgenössischer Zirkus die ideale Kunstform für unsere Zeit ist. Weil er so vielseitig ist, weil er so wenig Gepäck mitbringt im Sinne dessen, dass Menschen sich ausgeschlossen oder nicht eingeladen fühlen könnten. Dass er sich auf ganz vielen verschiedenen Ebenen vermitteln kann und dann über das gemeinsame Bühnenerlebnis Gemeinschaft schafft oder eben den Diskursraum öffnet und auf zugängliche Art und Weise Auseinandersetzung und Reflektion erlaubt.
Wir müssen die Menschen hinter den Fernsehern und Bildschirmen hervorholen und wieder in die Theater, in die Zelte, auf die Plätze, in die öffentlichen Räume bringen. Denn dieses starke Bedürfnis, sich voneinander zu distanzieren, zu differenzieren, nur nach Unterschieden zu suchen, ist ungesund und gefährlich für jede Gesellschaft. Die Herausforderungen unserer Zeit, ob ökologisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich sind nur im Schulterschluss und durch Rücksicht- und Mitnahme zu meistern. Da können Kunst und Kultur ganz viel beitragen und vor allen Dingen auch der zeitgenössische Zirkus. Und deshalb braucht er gleichberechtigte Zugänge, er braucht Wachstum, er braucht gute Rahmenbedingungen.

Das Auseinanderdividieren und Unterschiede Betonen haben wir natürlich manchmal auch in der Zirkusszene, gerade wenn es um die Begriffe "zeitgenössisch" und "klassisch" geht. Mein Eindruck ist, dass die Artisten selbst diese Unterscheidung viel weniger machen, als es der Blick von außen vermuten lässt. Wie ist dein Blick auf diese unterschiedlichen Kategorien?
Es ist natürlich immer ein Spannungsfeld: Einerseits möchte man aufzeigen, dass es diese Verschiedenheit gibt, andererseits sehen wir tagtäglich die Grenzen verschwimmen und gerade die Künstler*innen sind die Reisenden durch die unterschiedlichen Facetten des Zirkus. Je nach Perspektive ist die Differenzierung also nötig oder nicht. Solange sie keine Bewertung in sich trägt, ist sie eine Beschreibung der Artenvielfalt und wichtig für die tägliche Arbeit, für das Sichtbarmachen und Charakterisieren.
Oft fängt es beim Thema Förderung an, eine Rolle zu spielen …
Ich habe selbst oft gesagt, wir müssen das Kind beim Namen nennen, denn der Antrag, wofür auch immer, muss in ein Fach gelegt werden und einem Referat zugeordnet werden. Was die öffentliche Verwaltung anbelangt, leben wir nun einmal in Kategorien, ohne die sie unter Umständen nicht funktionieren würde. Sicherlich ist es eine tolle Vision zu sagen, irgendwann gibt es kein zeitgenössisch oder klassisch – dafür arbeiten wir jeden Tag - aber im Detail sind die Unterschiede oft auch wichtig und helfen, Kernkompetenzen zu entwickeln, Szenen zu bilden und Interessenvertretungen auf den Weg zu bringen.

Ich komme noch mal zurück zum Zugang zu Fördermöglichkeiten. Yaron Lifschitz, der als künstlerischer Leiter von der Kompanie Circa ja ein guter Bekannter von dir ist, hat mal in einem Podcast sinngemäß gesagt, der beste Weg, um mehr auch Ressourcen für Künstlerinnen und Künstler zu generieren, sei es, den Produzenten mehr Ressourcen zu geben. Teilst du diesen Standpunkt, sollte die Rolle der Produzenten im zeitgenössischen Zirkus gestärkt werden?
Ich würde es ein bisschen umformulieren. Für mich sollte es mehr Strukturförderung geben und dazu gehört auch die Rolle der Produzent*innen. Wir müssen uns mit der Frage der Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit unserer Arbeit beschäftigen.
Wenn man in Strukturen investieren würde - und ja, das gilt auch für unser Haus – wäre es möglich, langfristiger, nachhaltiger und somit ganzheitlicher zu agieren. Alles als Kreislauf zu betrachten, unterschiedliche Kompetenzen und Bedarfe abbilden zu können, würde künstlerisches Arbeiten als Prozess verstehen und sicherer gestalten. Das ist besser, als einer Person oder Kompanie temporär Geld zu geben, das nicht mal zum Überleben oder zum Aufbau einer Struktur reicht, sondern dessen Ausbleiben immer zum Stillstand und Ende führen würde. Das ist eine für mich nicht nachvollziehbare Einbahnstraßen-Logik.
Produzenten sind sicherlich ein Kernstück, denn nur weil du eine Idee hast, hast du sie noch nicht in der Welt, du hast sie weder produziert noch die Zukunft gesichert. Selbst wenn jemand sagt: „Ich finde deine Showidee klasse, komm in zwei Jahren mit dem Stück zu mir", bist Du oft keinen Schritt weiter. Du hast trotzdem noch nicht das Geld, um das Stück zu produzieren, um die Räume zu mieten, Kreative, Künstler*innen anzuheuern, die Kommunikation und den Vertrieb zu starten…
Und deshalb sind diese Strukturförderungen - ob für Kompanien oder auch Produktionshäuser – so wichtig. Das Publikum am Ende zu erreichen, Tickets zu verkaufen und einen Umsatz zu generieren ist vielleicht nicht die größte Herausforderung. Aber erst mal dahin zu kommen, als Struktur Bestand zu haben, ein Publikum entwickeln zu können, das ist ein langer Weg. Und da bin ich der Meinung, dass man wesentlich mehr in Strukturen, in Arbeitsbedingungen investieren sollte, damit eine Szene mehr schaffen kann und alle gemeinsam langfristig planen können.
Jetzt bin ich mal ein bisschen provokant: Wenn ich auf den Spielplan vom Chamäleon schaue, dann sind die Kompanien meist aus Australien oder Kanada, da sind nicht viele europäische Kompanien und erst recht keine deutschen. Sind wir da einfach in Deutschland noch nicht so weit, was die Exzellenz betrifft?
Was man bei uns ablesen kann, sind zwei Sachen. Zum einen haben alle Kompanien, die in den großen Spielzeiten bei uns sind, Förderungen in ihren Heimatländern. Was wir brauchen, um in eine mehrmonatige Bespielung zu gehen, ist etwas, was es normalerweise bei Kompanien nicht gibt: Ein neunzigminütiges Stück mit einer Pause, das so konzipiert ist, auch was die Anzahl der Performer*innen betrifft, dass es sieben Vorstellungen die Woche über vier bis fünf Monate spielen kann. Um diese Arbeiten zu schaffen, braucht es Geld, weil wir als Bühne, die selbst keine signifikante Förderung hat, die Kreationskosten gar nicht zu hundert Prozent finanzieren können.
Das ist schon mal eine ziemlich große Barriere. Trotzdem versuchen wir, auch mit ganz jungen Kompanien oder eben auch solchen, die keine Unterstützung haben, etwas auf den Weg zu bringen. Aber diese Spielzeiten sind eine große Maschine. Die müssen für uns alle funktionieren. Keine Tickets verkaufen ist keine Option, denn wir leben vom Ticketverkauf. Es gibt in Europa viele großartige Kompanien, wir sind auch mit vielen im Gespräch. Aber genau zu sagen „ich kann dir garantieren, dass ich in ein oder zwei Jahren komme mit einem Stück, das reinpasst und für das ich auch das Ensemble vorhalten kann“ – das ist nicht einfach.
Wir versuchen, so gut wie es geht, zu helfen - über Investitionen, über kleinere Projekte, über unser Residenzprogramm. Wir legen Skizzen an, gerade auch mit der lokalen Szene, um dann zu unterstützen und zu schauen: Gibt es da eine Förderung, die wir zusammen beantragen können? Mit jeder Kompanie, die sich meldet oder mit denen wir ins Gespräch gehen, schauen wir, wie wir helfen und unterstützen können. Fakt ist jedoch, dass nur wenige Kompanien alle Anforderungen, die wir haben, aus eigener Kraft stemmen können.

Was ist der zweite Grund, dass wir oft die gleichen etablierten internationalen Kompanien bei euch im Chamäleon sehen?
Der zweite Grund ist, dass wir sehr im Freundschaftlichen zusammenarbeiten mit Kompanien und dass wir auch strategisch schauen, welche Geschichten wir erzählen wollen und welche Ästhetiken und Stile unser Publikum liebt. Aber der Wunsch ist unbedingt da, dass wir die Türen viel weiter aufmachen, mehr thematische Vielfalt und Repräsentanz abbilden. Aber aufgrund der schwachen Strukturen und Fördersysteme ist es immer ein langer Weg. Wir sind mit so vielen Leuten im Gespräch und im Austausch und die Einladung ist aufrichtig, wenn ich sage, egal was es ist, kommt bitte auf uns zu. Auch, wenn es erstmal nur eine Idee ist.
Ein Beispiel für eine ganz junge Kompanie, allerdings aus Kanada, ist People Watching, die gerade ihre Spielzeit im Chamäleon abgeschlossen haben …
People Watching hatten ein Stück von sechzig, siebzig Minuten mit sechs Personen. Es war eine inhaltliche Entscheidung der Kompanie, ihre künstlerische Arbeit für unsere Bedarfe zu öffnen und es war ein gemeinsamer Prozess, die Ressourcen für eine Umarbeitung zu finden. Die Kompanie hatte hierfür Förderungen in Québèc und das sind genau diese Systeme, die ich meine und die wir nicht ausreichend in Deutschland haben.
People Watching ist dann ein tolles Beispiel, wie eine Company mit dem ersten Stück total international einschlagen kann. Was zeichnet die Company, mit der du ja in den letzten Monaten intensiv zusammengearbeitet hast, aus, dass sie diesen Weg gehen lässt?
Für mich verändert dieses Kollektiv gerade die Bewegungs- und Bühnensprache des zeitgenössischen Zirkus. Ihre Arbeit zu sehen, ist für viele wie ein Wachmacher und die Erinnerung, dass wir alle mal angetreten sind, Dinge in Frage zu stellen und trotz aller Nahbarkeit einer Kunstform, nicht auf den Applaus oder Effekt hinzuarbeiten. So war es vielleicht auch damals bei den Seven Fingers, die für uns im Chamäleon die Initialbegegnung waren und durch ihre sehr persönliche, authentische und choreographische Art der Inszenierung begeistert haben. Und so gibt es in jeder Kunstform immer wieder Impulse oder Trends, die hohe Wellen schlagen und zu mehr Freiraum führen.
Ich glaube, dass People Watching gerade für die kanadische Szene ein neues Kapitel aufgeschlagen haben. Sie sind sicherlich exzellent in dem, was sie tun, dennoch stört mich der Begriff enorm, wenn er wie ein Label und ohne Kontext verwendet wird. Denn um seine Exzellenz zeigen zu können, braucht man auch Rahmenbedingungen. Und People Watching sind unbestritten talentiert, herausragend in dem, was sie tun, sie arbeiten unendlich hart und haben zudem einen großen Teil ihres Lebens miteinander verbracht, als Kollektiv, als Menschen, als Künstler*innen. Sie haben also wahnsinnig viel Erfahrung gesammelt und ihre Expertise aufgebaut. Sie haben zwei Jahre an diesem Stück gearbeitet. Alles war ein sehr langer, herausfordernder Prozess, der jedoch auch immer wieder gefördert und unterstützt wurde. Sie haben sich selbst ihre Welt geschaffen und konnten Unterstützung und Rahmenbedingungen finden, die es ihnen ermöglicht haben, ihre Exzellenz zu zeigen.
Sicher spielt auch Montreal als Ort eine Rolle, der ein reichhaltiges Netzwerk bietet. Hat Berlin das Potenzial, auch zu so einem Cluster für neue Zirkusformen zu werden, oder ist es das vielleicht schon?
Ich glaube schon. Es gibt inzwischen so viele verschiedene Räume – Orte, an denen Zirkus geschaffen wird, an denen Künstler*innen zusammen trainieren und arbeiten. Und wenn wir in Deutschland nicht bald auf eine totale Wüste an Kulturförderung blicken, wird es auch hier in absehbarer Zeit viele weitere Zirkus-Kompanien geben, die die eigene Arbeit durch eine konsequente Förderung in die Größe entwickeln können, dass sie als leuchtturmhafte Institutionen wahrgenommen werden, die anderen den Weg ebnen.
Montreal hört sich auch immer an wie ein Schlaraffenland. Und ja, es gibt dort viel. Aber die Konkurrenz und die Anforderungen an Förderungen sind hoch. Durch die Konzentration der Zirkusszene und zunehmenden Immobilienspekulation ist es auch dort nicht leicht, bezahlbare Räume zu finden. Aber durch die Arbeit vieler Akteur*innen und einer kontinuierlichen, kulturpolitischen Interessenvertretung ist der zeitgenössische Zirkus zum Kulturgut herangewachsen und wird konsequent gefördert.

Vielleicht ist es ja auch eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Zirkusformen, dass sie ihre Lage tendenziell schlechter einschätzen, als sie ist. Mit anderen Kultursparten wie dem Theater verglichen hat sich Zirkus als Ganzes ja etwa recht schnell von der Pandemie-Zeit erholt.
Die Lage ist strukturell und finanziell schlecht und bedrohlich. Inhaltlich hingegen haben sich die Bühnen, die zeitgenössischen Zirkus programmieren, schneller erholt. Mir sagen oft Kolleg*innen, die verschiedenen Sparten-Festivals veranstalten: „Bei den Zirkusproduktionen muss man sich keine Sorgen machen, die sind immer ausverkauft."
Warum gibt es dann trotzdem offenbar noch Berührungsängste, warum programmieren noch immer nicht sehr viele Bühnen Zirkus?
Ich sage es mal so: Man hat ja auch sein Profil. Wenn ich als Stadttheater mit Sprechtheaterprogrammen etabliert bin, kann ich ja nicht plötzlich mein Profil aus dem Fenster schmeißen und sagen „ich mache alles anders", das kann ich schon verstehen. Auch das hängt wiederum mit strukturellen Aufstellungen zusammen, die teilweise Transformation und Veränderung schwerer machen. Wir in der freien Szene und im privatwirtschaftlichen Bereich sind, was Transformationsprozesse anbelangt, wesentlich flexibler. Das müssen wir ja auch sein. Wenn der Existenzdruck im Nacken ist, dann ist Veränderung einfach eine Tugend, die aus einer Not heraus entstehen muss. Nicht, dass ich diesen ständigen Existenzdruck als Katalysator preisen möchte, aber für viele geht es immer ums Ganze, da wird einem die Entscheidung der Veränderung schlichtweg abgenommen.
Dennoch glaube ich, dass es vor allem mit Blick auf Themen wie Publikumsschwund, Zugänglichkeit und gesellschaftliches Miteinander bei den anderen Bühnen Öffnungen und Transformationen geben kann und wird. Wir haben zum Beispiel jetzt gerade eine Kooperation mit dem Brandenburger Theater, den Brandenburger Symphonikern und der Kompanie Gravity & Other Myths initiiert. Wir sind im Entwickeln eines Stückes gemeinsam mit dem Orchester, das für das Haus in Brandenburg an der Havel entstehen wird und danach hoffentlich auf vielen Bühnen zu sehen sein wird. Da eröffnet sich nicht nur ein Haus einer ganz neuen Kunstform, sondern legt auch den Grundstein für eine nachhaltige Auswertung des entstehenden Materials, da wir die Musik mit Orchester aufnehmen und so ins Touring überführen können. Ressourcenteilung, inhaltliche Impulse und Kooperation zwischen unterschiedlichsten Welten – und das alles auch, weil ein Haus Mut und Veränderungswillen zeigt. Wir treffen auf so viel Offenheit und Kreationswillen beim Orchester und dem gesamten Team und es ist schön zu sehen, dass uns am Ende nicht viel trennt. Also E und U kann man wirklich loslassen.
Etwas Neuartiges, Innovatives ins Programm zu nehmen, ist nie ohne Risiko. Das weißt du als künstlerische Leiterin einer Bühne. Wie nehmt ihr euer Publikum mit?
„Audience Development“ ist ein konsequenter Prozess, der einer strategische Entscheidung bedarf und Ausdauer erfordert. Man programmiert etwas, was außerhalb der Komfortzone des Stammpublikums ist und begleitet es inhaltlich. Man nimmt das Scheitern in Kauf bzw. hat eine Struktur, die es erlaubt. Das ist ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Für uns ist es ein 20jähriger Weg und eine nicht endende Unterhaltung mit unseren Gästen, der dazu geführt hat, dass wir jetzt ein Stück wie Play Dead von People Watching programmieren konnten, wo der Zirkus in einer solchen Art inszeniert ist, dass man denken könnte: „Ja, wo ist er denn?“, weil es wenig statische Momente gab, wo er sich bildhaft rausgestellt hat. Genau da kommen Förderinstrumente zum Tragen, denn Strukturen brauchen Unterstützung, um diese Prozesse zu leben. Dann ist es auch okay, mal eine geringere Auslastung zu haben, aber ohne dieses Sicherheitsnetz ist es schwer und sehr risikoreich, wovon wir ein Lied singen können. Aber es lohnt sich, sonst könnten wir uns heute nicht über 50% Erstbesucher*innen und ein Durchschnittsalter von 46 Jahren freuen.

Andererseits sieht man jetzt, wenn man auf euren Spielplan schaut, wieder zwei Stücke von Circa und Gravity & Other Myths, die bereits zuvor am Chamäleon zu Gast waren. Manchmal braucht es also auch sichere Kandidaten?
Auf jeden Fall. Unsere Existenz hängt am Kartenverkauf und meine Aufgabe ist es auch, den Betrieb und alle Arbeitsverhältnisse durch die Programmgestaltung abzusichern. Daher müssen wir Risiken planen und auf Sicht fahren. Gerade jetzt, wo die Kürzungen die Kultur beuteln und das Gefühl der Unsicherheit die Gesellschaft panisch werden lässt, machen wir uns trotz aller Planungen und Strategien große Sorgen um die eigene Existenz. Es ist wichtig, dass es weiterhin umfassende Kulturförderung gibt, wenngleich wir derzeit ohne substantielle Förderung arbeiten müssen, sind wir Teil einer geförderten Infrastruktur, ob Proberaumprogramme, Einzelprojektförderungen, Rechercheförderungen oder Reisekostenförderungen - direkt oder indirekt sind alle Akteur*innen von Kürzungen während drastisch steigender Betriebs- und Produktionskosten betroffen. Wir als Haus sind bereits an dem Punkt, dass wir die Ticketpreise nicht mehr proportional mit anheben können, denn dann verlieren wir Publikum und unseren Anspruch, zugänglich und ein sozialer Ort zu sein und wir erreichen nicht mehr alle.
Man hört gerade oft, dass es die Zeit für „Feelgood-Produktionen“ sei, wo man einfach den Alltag vergessen kann, also eine Zeit, für „leichte Kost“. Wie stehst du dazu?
Man sagt oft, dass die Leute in den schweren Zeiten nicht noch etwas Schweres sehen wollen. Das stimmt sicherlich zu einem großen Teil, betrachtet das Ganze aber etwas undifferenziert. Ich bin eine Verfechterin von: „Das Angebot bestimmt die Nachfrage." Und ich tue mich sehr schwer damit zu sagen, wir brauchen nur noch Feelgood-Produktionen. Ich glaube eher, dass wir Feelgood-Orte brauchen. Wenn man an einem Ort eine positive und wertschätzende Atmosphäre erlebt, dann fällt es leichter, sich einem schwereren Kontext gegenüber zu öffnen. Wir hatten in der letzten Spielzeit so viele Schulklassen, die oft laut und unkoordiniert ankommen. Mit Beginn der Vorstellung wurden es plötzlich aufmerksame junge Leute, fasziniert von dem, was auf der Bühne passiert ist, obwohl es eine komplexere und manchmal auch eine abstraktere Arbeit war, die eine Grundspannung an Aufmerksamkeit verlangt hat. Und trotzdem blieben die Handys in den Taschen und die Menschen waren still und aufmerksam bis zum lösenden Schlussapplaus. Wir hören oft das Feedback der Lehrenden, dass die Klassen den geplanten Theaterbesuchen eher skeptisch gegenüberstehen und aber nach dem Zirkusbesuch völlig begeistert sind und sich mehr wünschen.
Wir dürfen unser Publikum also nicht unterschätzen und in Schubladen programmieren. Nach der Pandemie haben wir mit Stücken wiedereröffnet, von denen ich vorher gesagt hätte, das kann ich bei uns nicht zeigen. Und dann saßen die Menschen weinend im Saal und ich habe gelernt und verstanden, dass ich unser Publikum unterschätzt habe. Heute versuchen wir sehr genau herauszufinden, was die Bedürfnisse und Erwartungen der Gäste sind. Nicht, um ihnen genau das anzubieten, aber um das Maß an Kommunikation und Begleitung festzulegen.
Darüber hinaus sehe auch ich mich in der Verpflichtung, meine Intentionen und die der künstlerischen Arbeiten zu teilen, wir verstehen uns auch als Dienstleister*innen. Wir wissen mittlerweile, dass die Menschen nicht kommen, weil sie einen leichten oder einen Feelgood-Abend haben möchten. Sie kommen, weil sie herausragenden Zirkus sehen wollen. Sie kommen, weil sie das Gefühl haben wollen, dass wir uns um sie bemühen und alle unser Bestes gegeben haben. Und sie möchten eine erbauliche oder eben hoffnungsvolle Erfahrung gemacht haben. Dies lässt viel Raum für alles andere – schwere Themen, Provokation, Abstraktion und so weiter. Am Ende soll sich der Abend stärkend anfühlen und das muss nicht die alleinige Aufgabe des Programms sein, das kann halt auch ein Ort mit seinen Menschen sein.
Ganz ehrlich fehlt mir manchmal das Verständnis, wenn im Jahr 2024/2025 gerade dort, wo Ressourcen und Möglichkeiten da sind, aus Angst einen Markt nicht zu erreichen, manchmal auch banale oder stereotype und klischeeverstärkende Botschaften über Bühnen gehen, wo ich so denke: Echt? Dafür wollt Ihr in dieser Zeit stehen? Es ist immer ein Balanceakt, das Publikum zu fordern und kommerziell zu überleben. Aber man kann es sich durchaus an manchen Stellen etwas schwerer machen.
Auch im Touring höre ich immer wieder, dass Veranstaltende sagen: „Dafür haben wir kein Publikum.“ Und das glaube ich. Auch wir hatten für viele Dinge kein Publikum. Und in unserem Falle haben wir uns einfach entschieden, es zu machen und haben uns ein System gebaut, nämlich auch in Bezug auf Unterstützung, mit dem wir es trotzdem überlebt haben. Das hat nicht jeder, das respektiere ich. Aber ich wünsche mir manchmal mehr Experimentierfreude oder Mut bei manchen großen Strukturen im internationalen Zirkuskontext, es wenigstens zu versuchen.
Ich finde, das lässt sich auf den traditionellen Zirkus insofern übertragen, weil die leuchtenden Beispiele seiner Erneuerung in Deutschland eigentlich groß geworden sind, weil sie Risiken eingegangen sind. Ein Roncalli hat keinen poetischen Zirkus gemacht, weil die Umfragen gesagt haben, die Leute wollen Poesie sehen, sondern weil jemand einen Traum verwirklicht hat. Es ist wahrscheinlich durch die Sparten hinweg einfach eine Frage davon, Risiken einzugehen, weil man an etwas glaubt.
Total. Und ich glaube, dieses Wirklich-Dran-Glauben, das kann schon Berge versetzen und das kann auch Menschen mitnehmen, die zweifeln, auch im Publikum. Und deshalb kann man sich, indem man Risiken eingeht und auch so aufgestellt ist, dass man Scheitern überleben kann (siehe Strukturförderung), ganz viel Neuland eröffnen. Jede Kompanie, die bei uns war, auch gerade, wenn es vielleicht eine herausfordernde Spielzeit war, schafft mehr Gestaltungsraum in den Köpfen, in den Möglichkeiten für die nächsten. Ich sage immer: Unsere Bühne wächst durch jede Produktion.
Um auf dein Anfangsbild von der grünen Wiese zurückzukommen: Kann es für das Wachstum von Neuem, für Kreativität, auch ein Vorteil sein, dass wir in Deutschland noch mehr grüne Wiese vorfinden als feste Strukturen?
Für mich ist es eine total faszinierende und spannende Szene - aktuell auch spannender, als wenn ich etwa nach Montréal fahre. Wir haben hier so viel zu entdecken, viele unterschiedliche Stücke, Stile, Arbeitsmethoden, Orte, Künstler*innen, die neue Projekte starten und Raum für Diskurse öffnen. Es gibt gerade eine große Bereitschaft, es sich zugunsten der Sache auch schwer zu machen und zu sagen: Ich halte aber fest an dem, was ich hier unbedingt machen will. Ich bin bereit, diese Entscheidung zu tragen und immer in Bewegung zu bleiben und Risiken einzugeben. Das führt zu einer Resilienz, die sich am Ende auszahlt und die mich nach all den Jahren am Zirkus begeistert.
Anke Politz ist Intendantin des Chamäleon Berlin und 1. Vorsitzende im Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus (BUZZ).
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