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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

Man sollte Kind sein dürfen im Zirkus

Ein Plädoyer für einen Zirkus, der sich an den Bedürfnissen des Publikums ausrichtet

A Peek at the Circus, (1940), Gemälde von Ben Messick (1891-1981)

“Im Zirkus kann man wieder Kind sein”, heißt es oft. Wenjger Wohlwollende leiten daraus ab, dass Zirkus etwas Kindisches sei. Dem liegt ein Missverständnis zu Grunde. Im Zirkus erleben wir etwas Unmittelbares, etwas Körperliches, das in der Regel keiner erklärenden Worte bedarf. Zirkuskunst zielt direkt ins Reich der Empfindungen, ohne diese mit einem Framing aus Konventionen, Erwartungen oder vorgegebenen Interpretationen überlisten zu wollen. Er ermöglicht uns damit, die Perspektive eines Kindes einzunehmen, ganz unabhängig davon, ob der Inhalt uns an der Oberfläche als “kindisch” erscheint. "Wieder Kind sein" ist in diesem Sinne vielmehr eine Umschreibung dafür, Kunst direkt mit dem Herzen wahrzunehmen und sie nicht als Analyse- und Interpretationsobjekt oder intellektuelles Statussymbol zu sehen. Hierin liegt meiner Überzeugung nach ein gemeinsamer Kern, in dem sich sämtliche Zirkusformen wiederfinden können.


Zirkus stellt keine Vorbedingungen. Der Raum des Möglichen ist im Zirkus weiter als in wohl jeder anderen Form der Darstellenden Künste. Im Zirkus kann ich eine Choreografie mit Anleihen an den modernen Tanz zeigen und es fühlen sich Menschen davon berührt, die noch nie zuvor von einer Pina Bausch gehört haben. Ich kann die Commedia dell’Arte zitieren und Menschen damit zum Lachen und Träumen bringen, ohne dass jemand im Publikum einen Faible Theatergeschichte haben muss.


Der Zirkus als Kunstform, die sich als Konglomerat diverser künstlerischer Leistungen versteht, übernimmt dabei eine Vermittlerrolle ein zwischen eben diesen einzelnen künstlerischen Einzelleistungen und dem Massenpublikum. Diese Funktion als Multiplikator darf nicht unterschätzt werden und sollte in der Diskussion um öffentliche Anerkennung und Förderung des Zirkus eine größere Rolle einnehmen. Ebendiese Anerkennung und Förderung birgt jedoch auch Risiken und kann sich als vergiftetes Geschenk erweisen, wenn sie den gewohnten Schemata der sogenannten Hochkultur folgt. Wer nicht mehr von der Gunst seines Publikums abhängig ist, droht sich von ihm zu entfremden. 


Vor nunmehr 100 Jahren stellte der bedeutende Bauhaus-Künstler Laszlo Moholy-Nagy in seiner Schrift “Das Theater der Totalität” mit Blick auf die populären Kunstformen Zirkus und Varieté folgende These auf: “…es wäre oberflächlich, die großen Schaustellungen und Aktionen dieser Gattung mit dem Worte ‘Kitsch’ abzutun. Es ist gut, ein für allemal festzustellen, dass die so verachtete Masse - trotz ihrer ‘akademischen Rückständigkeit’ - oft die gesundesten Instinkte und Wünsche äußert.” Zur Zielsetzung der Kunst führt er weiter aus: “Unsere Aufgabe bleibt immer das schöpferische Erfassen der wahren und nicht der vorgestellten (scheinbaren) Bedürfnisse.” 


Die Grafik "Menschenmechanik (Varieté) von Laszlo Moholy-Nagy (1925)

Wer ist nun in der Lage, diese Bedürfnisse der breiten Masse zu erfassen? Es ist schwer, die Frage zu beantworten, doch kommt der leise Verdacht in mir hoch, dass es wohl nicht die Jurys staatlicher Kulturförderprogramme sind, die in ihren Ausschreibungen “gesellschaftlich relevante Themen” in akkurat formulierten Spiegelstrichlisten definieren. Nun will ich mich nicht derselben Anmaßung schuldig machen, doch beim täglichen Verfolgen der Nachrichten liegt für mich nahe, dass Phantasie, Freude, Rührung und deren Erleben in einer Gemeinschaft quer über alle Schichten hinweg heute mehr denn je “systemrelevant” sind - um ein anderes populäres Wort der Politik zu bemühen. 


Dass Popularität im Widerspruch zu künstlerischem Anspruch stehen müsse, halte ich für ein weiteres Missverständnis. Die Ansicht, dass Kunst in Auge des Betrachters liege, bedeutet, konsequent weitergedacht, dass erst der Betrachter etwas zur Kunst erhebt. Den Betrachter aus der Gleichung zu streichen, Kunst nur aus einem egoistischen Motiv der eigenen Selbstverwirklichung zu betreiben, tut dem Ergebnis selten gut.


Zirkus bekommt ein unglaublich ehrliches, ungefiltertes Feedback vom Betrachter, eben weil er an diesen keine Anforderungen stellt, weil er jeden einlädt und zuallererst nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Potpourri außergewöhnlicher Fähigkeiten und mitreißender Darbietungen verspricht. Sich diesen Aspekt, unabhängig von den gewählten Ausdrucksformen, zu bewahren, stünde auch einem zeitgenössischen Zirkus gut zu Gesicht. Dann kann man in jeder Form des Zirkus wieder Kind sein.

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