No Risk, no Circus - ein Plädoyer für die Bedeutung des Risikos im Zirkus
- Daniel Burow

- 1. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

In den gängigen Definitionen, was Zirkus als Kunstform ausmacht, spielt der Begriff des Risikos eine zentrale Rolle. „Die für den Zirkus erforderlichen Fähigkeiten sind eine einzigartige Mischung aus Akrobatik und künstlerischem Können, und in seiner Unmittelbarkeit, seiner Lebendigkeit, setzt sich der Zirkusartist einem Risiko aus, sei es einem wahrgenommenen oder einem tatsächlichen.“ (1) So heißt es etwa im „Routledge Circus Studies Reader“, den Peta Tait and Katie Lavers herausgegeben haben.
Auch wenn das jahrelange Training von Artisten das Risiko von Unfällen extrem reduziert, erinnern uns Vorfälle wie etwa der tödliche Sturz einer Trapezartistin kürzlich in einem deutschen Zirkus, immer wieder an die Gefahren, mit denen artistische Darbietungen dennoch verbunden sind. Und die vorhersehbaren Reaktionen erinnern uns daran, wie wenig diese dem Zirkus innewohnende Akzeptanz von Risiko in unsere risikoaverse Gesellschaft passt. „Verbieten sollte man sowas“, liest man da in manchen Social-Media-Kommentaren.
Risiko, so meine These, ist ein integraler Bestandteil aller Formen von Zirkus, in unterschiedlicher Ausprägung. Dabei meine ich nicht das Risiko von Unfällen, das es auf ein Minimum zu reduzieren gilt. In jedem Trick steckt das Risiko des Gelingens. Fängt der Jongleur die Keule? Bekommt der Luftartist nach dem Salto die Trapezstange zu greifen?
Im traditionellen Zirkus ist dieses Risiko Kern der Dramaturgie – Trommelwirbel inklusive. In anderen Zirkusformen mag das Risiko nicht so plakativ inszeniert sein. Dafür kommen andere Arten von Risiko ins Spiel, wie die Forscherin und Zirkusartistin Kristy Seymour vorschlägt: „Für erfolgreiche zeitgenössische Zirkusproduktionen sind kreative und ideologische Risiken ebenso wichtig wie die physischen Risiken, die bei der Ausführung der Tricks auftreten.“
Ich möchte ergänzen: Da es heute auch unter typischerweise als „traditionell“ bezeichneten Zirkussen eine Differenzierung in diverse Richtung mit mehr oder weniger ausgeprägten Elementen des „neuen“ oder „zeitgenössischen“ Zirkus gibt, lässt sich dieser breitere Risikobegriff allgemeiner anwenden.
In meinen eigenen Zirkusproduktionen stelle ich fest, welch großes kreatives Potential in Artisten stecken kann, die es eher gewohnt sind, eine immer gleichbleibende Routine abverlangt zu bekommen. Dieses Potential zu heben, ist aus meiner Sicht Kernaufgabe von Regie in Zirkus. Dieses Potential zu erkennen und schon bei der Auswahl eines Casts mit den Zielen der Produktion abzugleichen, ist Aufgabe des Castings. Wer nicht nur nach dem fertigen Produkt sucht, sondern nach Potentialen, der geht immer ein kreatives Risiko ein. Doch gibt es, wie ich finde, bereits genug Zirkusproduktionen, die aus zusammengewürfelten gefälligen Acts bestehen, die man genau so auch auf YouTube sehen kann.
Im Unterschied zum Theater spielen die Artisten im Zirkus zumeist keine Rollen. Das macht die Authentizität aus, die oft mit Zirkus in Verbindung gebracht wird. So zeigt der Zirkusartist immer etwas von sich selbst. Im traditionellen Zirkus ist zumeist den Clowns eine ausdifferenzierte Persönlichkeit vorbehalten, während die Artisten einzig das Übermenschliche, das Heldentum, verkörpern. Da ist das emotionale Risiko begrenzt, das Risiko ist ein primär physisches: gelingt der Trick, oder gelingt er nicht?
Das vielleicht prägnanteste Merkmal zeitgenössischer Zirkusformen ist der Anspruch, mit Hilfe von Zirkustechniken ein ganzes Spektrum von Emotionen auszudrücken. Der Performer sagt nicht mehr nur: „Schaut her, was ich tolles kann!“ Er offenbart etwas von sich, zeigt Verletzlichkeit, Vielschichtigkeit. Kurzum, er geht emotionale Risiken ein.
Ich möchte den Risikobegriff zusätzlich um das materielle Risiko erweitern. Zirkus schöpft seine Wahrnehmung als besonders freie Kunstform, die sich über Konventionen hinwegsetzt, auch aus seiner Geschichte als Gegenpol zu einer staatlich regulierten Hochkultur. Diese Geschichte hat auch die künstlerische Form geprägt: In seinen Anfängen hat man im Zirkus auf gesprochenes Wort verzichtet, weil der etablierte Theaterbetrieb darauf ein Monopol reklamierte, nicht etwa aus originär künstlerischen Erwägungen. Auch die Betonung des Risikos geht auf den Sensationshunger des Publikums zurück, das es zum Ticketkauf zu motivieren galt.
Was gern als „ökonomische Zwänge“ abgetan wird, kontrastiert in Wahrheit nicht zu einer Welt künstlerischer Freiheit, sondern zu ganz anderen Zwängen. Wer den Faktor des ökonomischen Risikos eliminieren will, macht Zirkus von anderen Faktoren, wie von der kulturpolitischen Agenda der Politik und von eher bewahrenden als innovationsfreundlichen staatlichen Strukturen, abhängig. Dabei weiß nicht nur Bernhard Paul, dass - so seine oft verwendeten Worte - die Bürokratie der größte Feind des Kreativen ist.
In dem im Englischen sprichworthaften Slogan „Run away and join the Circus“ steckt immer auch ein Element des Prekären: Sicherheit opfernd, nach Freiheit strebend, schließt man sich der Welt des Zirkus an. “Run away and join the circus” – und nicht „Write some grant applications, check if the government pays you a living and then maybe join the circus‘.”
So ist die Geschichte des Zirkus nicht nur eine Geschichte wagemutiger Artisten, sondern auch eine ebenso wagemutiger Unternehmer, die enorme Risiken eingingen, um ihren Traum zu verwirklichen. Nicht elitäre Strukturen vor Staates Gnaden sollten aus meiner Sicht das Vorbild junger Zirkusschaffender sein, sondern eben dieser Unternehmergeist.
Sicherlich kann und muss nicht jeder ökonomische Risiken eingehen. Artisten gehen bereits ein hohes Risiko ein, indem sie sich für eine Profession entscheiden, die mit einer Verletzung, einer falschen Bewegung in Training oder Performance beendet sein könnte. Es braucht, so bin ich überzeugt, in der ganzen Kette von Künstlern über Produzenten zu Veranstaltern mehr Bereitschaft Risiken einzugehen. Und es braucht idealerweise Förderstrukturen, die dies honorieren und nicht nach den Maximen „wer schon gefördert wird, wird mehr gefördert“ oder „wer Publikum hat, braucht ja keine Förderung“ funktionieren.
Und hier kommen wir zur Verbindung zwischen kreativem und wirtschaftlichem Risiko. Meiner Überzeugung nach sollte es nicht primäres Ziel von öffentlicher Förderung in den Zirkuskünsten sein, Zirkusschaffende von Risiken zu befreien, sondern ihnen vielmehr zu ermöglichen Risiken einzugehen - kreative Risiken. Für einen Veranstalteter ist es einfach ein größeres Risiko, eine junge innovative Company zu engagieren als ein konventionelles Varietéprogramm zusammenzustellen. Und für den Künstler ist es ein größeres Risiko, neue Ideen und Ausdrucksweisen auszutesten als einen gefälligen Act anzubieten, der in jedes Nummernprogramm passt.
Wünschenswert wären Strukturen, die dazu motivieren neue Wege zu beschreiten und das Risiko dazu kalkulierbarer machen. Zumindest in der deutschen Förderrealität scheint es mir oft anders zu sein. Da wird nur die eine Box gegen eine andere getauscht. Man passt entweder in die Box “Mainstream-Entertainment” oder in die Box “Kultur-Establishment-Zeitgeist”. Warum das eine “freiere” Kunst als das andere bedeuten soll, ist mir nicht ersichtlich.
Heraus aus den Boxen schafft man es offenbar nur durch eins: durch das Eingehen hoher Risiken. Nicht umsonst haben die Gründungsgeschichten solcher Zirkusse, die als Erneuerer der Zirkuswelt gelten, in der Regel eines gemeinsam: auf dem Weg dahin sind ihre Gründer existenzielle Risiken eingegangen. Auf dem Weg dahin stand oft mehr als einmal alles auf des Messers Schneide.
Mit diesem Artikel möchte ich aufzeigen, wie vielschichtig der Begriff des Risikos ist und wie all seine Facetten mit der Kunstform Zirkus verbunden sind. Einzelne Aspekte nur bestimmten Zirkusformen zuzuordnen, wäre verkürzt und stünde im Widerspruch zu der Freiheit, die wir mit Zirkus assoziieren. Lasst uns also alle zusammen, als Zirkusszene, Mut zum Risiko haben - physisch, kreativ, emotional und materiell. No risk, no circus!
(1) Lavers, Katie & Tait, Peta (Eds.). The Routledge Circus Studies Reader (Abingdon: Routledge. 2016)
(2) Seymour, Kristy A Rhythm of Bodies: Making the Impossible Plausible Through Physicality, Risk and Trust in A Simple Space (Circus: Arts, Life and Sciences , vol. 3, 2024)



Kommentare