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Inspiring. Circus. Arts.

Das Online-Journal Inspiring. Circus. Arts. blickt hinter die Kulissen. Wir erkunden Trends, Herausforderungen und kreative Prozesse in den Zirkuskünsten, regen Debatten an, stellen junge Talente und führende Experten der internationalen Zirkusszene vor. 

Lotta und Stina - 20 Jahre später

Autorenbild: Daniel BurowDaniel Burow
Lotta und Stina in ihrer Show "20 Years Later - Still Here!" (c) Cosmin Cirstea
Lotta und Stina in ihrer Show "20 Years Later - Still Here!" (c) Cosmin Cirstea

„Man solle vielseitig sein, aufgeschlossen für verschiedene Richtungen“, diesen Rat richtete die Palazzo-Castingleiterin Steffi Haberl am Abend beim Publikumsgespräch im Berliner Pfefferberg-Theater an junge Artisten. Wenn es eines praktischen Beispiels bedarf, wie Vielseitigkeit und der Mut, eigene Wege zu gehen, eine Karriere formen können, dann sind es Lotta Paavilainen und Stina Kopra, die auf der Bühne zuvor ihre Show „20 Years Later – Still Here!“ präsentiert hatten. Über 20 Jahre sind die beiden Finninnen als Duo „Lotta und Stina“ tatsächlich bereits im Geschäft, traten auf Varietébühnen, in Dinnershows, in der Zirkusmanege und auf Straßentheaterfestivals auf.


Alles nahm in einem Jugendzirkus in Finnland an. Stina, gerade 15 Jahre alt, übte eine Rola-Bola-Nummer mit einem anderen Mädchen ein. „Irgendwann wollte die etwas Ernsthaftes studieren und hörte mit dem Jugendzirkus auf“, erzählt Stina. Dummerweise kam dieser Entschluss kurz vor einer Aufführung und so fragte Stina die zwei Jahre jüngere Lotta, ob sie einspringen könne. „Ich sagte zu ihr, sie solle einfach auf mich drauf steigen, während ich auf der Rola-Bola stand – und sie war verrückt genug, mir zu vertrauen.“


Kopf-auf-Kopf imApollo-Varieté
Kopf-auf-Kopf imApollo-Varieté

Die Geschichte ist typisch für die beiden unkonventionellen Artistinnen, deren Lebensmotto „was soll schon schief gehen?“ zu sein scheint. Und es sollten viele Auftritte mit dem Jugendzirkus folgen. Denn da ihr Act ein Boden-Act ohne aufwändige Requisiten war, durften sie auf etlichen Geburtstagsfeiern oder Hochzeiten auftreten. So oft, dass den beiden an der Ecole Supérieure des Arts du Cirque in Brüssel, wo sie anschließend drei Jahre studierten, regelrecht langweilig wurde. „Es sollte uns auf einen Job als Performer vorbereiten und dann verbringst du acht Stunden in einer Halle, wo dich nur deine Mitschüler sehen“, blickt Stina zurück.


Doch die Zeit ohne Auftritte sollte nicht lang anhalten. Direkt nach dem Abschluss wurden sie im Wintergarten-Varieté engagiert. Unter der Regie von Markus Pabst entstand eine Nummer, die auf der Arbeit im ersten Jahr an der Schule basierte. Lieber wären sie mit ihrem neuen Act, den sie zum Studienabschluss kreiert hatten, aufgetreten und für den sie später bekannt werden sollten. Doch der Wintergarten wollte etwas Simpleres, mehr Technikfokussiertes, basierend auf dem, was sie zuvor von Lotta und Stina gesehen hatten.  


Nachdem sie ihren „Wunsch-Act“ dann in einer Talentshow beim GOP-Varieté zeigen durften, wurde Benno Kastein auf sie aufmerksam. Er mochte den sehr theatralen Act mit seinen Comedy-Elementen und engagierte Lotta und Stina für seine Flic-Flac-Dinnershow.


Partnerakrobatik auf der Rola-Bola
Partnerakrobatik auf der Rola-Bola

Es war ein frühes Lehrstück darin, wie die Branche funktioniert. Auf die Frage, warum ihr Act über viele Jahre weitgehend unverändert blieb, während sie im Straßentheater zahlreiche verschiedene Shows kreiert haben, antwortet Lotta: „Im Markt für Acts möchte man genau das kaufen, was man zuvor gesehen hat. Im Straßentheater dagegen kauft mach dich als Charakter und niemand diktiert dir, alles genau wie im Video gesehen zu tun.“


Vielleicht ist es dieses größere Maß an künstlerischer Freiheit, das Lotta und Stina zum Straßentheater gezogen hat. Inzwischen bestreiten sie von ihrer Homebase in Spanien aus jeden Sommer eine ganze Straßentheater-Tournee. Am Anfang jedoch stand abermals ein Zufall. Freunde von ihnen konnten einen Vertrag mit einem Straßenfestival nicht wahrnehmen und suchten Ersatz. Dann ging es schnell: „Habt ihr eine Show?“ – „Also, wir haben keine, aber wir können uns immer was ausdenken“ - zwei Stunden später rief die Bookerin vom Festival an, Lotta dachte sich aus dem Stehgreif aus, wovon die Show handeln sollte – „Oh, ja, es ist eine Geschichte über diese zwei Frauen…“ - und die beiden waren im Geschäft. Was konnte schon schief gehen?


Die Show entstand dann zum Teil vor dem Publikum und das liebte, was es sah. Sie hatten zuvor nie vor Publikum ins Mikrofon gesprochen und mussten es jetzt auf Englisch tun. Gerade die Improvisation kam an und sie dachten sich „Oh wow, wir können auf Englisch lustig sein!“, wie sich Lotta erinnert. Das können sie übrigens auch auf Deutsch, wie der Abend im Pfefferberg-Theater zeigte. Sie hatten zuvor ein wenig Deutsch gelernt, mischten es mit etwas Englisch und Finnisch und versprühten damit auch in Berlin den Charme der gekonnten Improvisation.


Zwei, die die Welt erobern, hier in Japan
Zwei, die die Welt erobern, hier in Japan

Während ihrer Karriere pendelten Lotta und Stina immer zwischen den Welten des traditionellen Zirkus und Varietés einerseits und des Straßentheaters und zeitgenössischen Zirkus andererseits. Doch die Welten verschmelzen ich ihren Augen. „Ich glaube nicht an Boxen“, sagt Lotta, „viele Menschen sagen, im zeitgenössischen Zirkus arbeitest du schauspielerisch und im traditionellen nicht. Aber die besten Schauspieler, die ich je gesehen habe, sind die Leute, die im traditionellen Zirkus vorgetäuschte Stürze zeigen. Es ist ein Handwerk, es ist eine Kreation“. Darin, wie Artisten im traditionellen Zirkus die Publikumsreaktionen kontrollieren, sieht Lotta eine deutliche Dramaturgie: „Die Ziele der Kreation mögen unterschiedlich sein, aber immer kreierst du.“


Mit wachsender Erfahrung und Renommee konnten Lotta und Stina ihren Drang zum Kreieren auch im traditionellen Kontext mehr und mehr einbringen. Etwa in den Palazzo-Dinnershows hatten sie im ersten Jahr noch genau ihren vorgegebenen Act zu zeigen, während die Freiheiten im zweiten und dritten Jahr stiegen. „Im ersten Jahr waren wir als Akrobaten engagiert, später auch als Charaktere“, beschreibt Stina.


Daran erkennt sie auch ein gewisses Privileg, das man bekommt, wenn man mehr als Comedians denn als Artisten wahrgenommen wird. Früh erkannten die beiden, dass Comedy ihr Element ist – in einer Zeit, in der von weiblichen Artisten vor allem erwartet wurde, von Eleganz und Schönheit geprägte Nummern abzuliefern. Nicht zuletzt deshalb wagten sie irgendwann den Schritt, ihre eigene Show zu kreieren. Dabei konnte ihnen keiner reinreden und der Erfolg bei etlichen Zirkus- und Straßentheaterfestivals sollte ihnen Recht geben.


Szene aus "20 Years Later - Still Here!" (c) Cosmin Cirstea
Szene aus "20 Years Later - Still Here!" (c) Cosmin Cirstea

In ihrer Show „20 Years Later“ lassen sie ihre Karriere nun Revue passieren. Doch das Wort Retrospektive klingt viel zu ernst für das, was die beiden auf die Bühne bringen. Es ist ein autofiktionaler wilder Ritt durch Höhen und Tiefen, in die Gedankenwelt von Artistinnen, durch skurrile Situationen, die zwischen Komik und ernstem Kern pendeln. Wenn sie etwa den sexuell übergriffigen Chefkoch einer Dinnershow persiflieren, bleibt manchem Zuschauer das Lachen im Halse stecken. Wenn sie die zahlreichen Unfälle während ihrer Karriere aufzählen, um ihre Trickfolge danach mit Bandagen und Verbänden unter sichtlichen Strapazen zu wiederholen, dann reagiert das Publikum überall unterschiedlich, wie die beiden berichten. Mal gibt es breites Gelächter, mal mitleidvolle Zurückhaltung.


Als Lotta und Stina mit der Arbeit an der Show begannen, hatten sie keinerlei Erwartungen daran, wer sie würde kaufen wollen. Es war das erste Mal in ihrer Karriere, dass sie sich für eine Kreation um Förderung beworben haben, zuvor war alles „Do It Yourself“. Die neue Konstellation gab den beiden eine Freiheit, die sie genossen. „Wir wollten einfach machen, was immer herauskommt und dann sehen, ob es jemand kaufen würde“, erklärt Lotta, „ohne diesen Käfig von ‚können wir dies oder jenes sagen?‘“


Als nächstes steht für Lotta und Stina ein neues Ensembleprojekt an. Sie werden zusammen mit drei anderen Artisten aus Dänemark und Schweden in der Produktion „Turbulences“ mitwirken, die sich mit dem ernsten Thema Klimamigration beschäftigt. Es ist nicht das erste Ensembleprojekt der beiden. „Ich freue mich darauf, wieder in einem Kollektiv zu arbeiten“, so Lotta, „damit das funktioniert, braucht es reife Persönlichkeiten und ich bin neugierig zu sehen, ob ich selbst als Persönlichkeit gewachsen bin.“


"Mad in Finland" Open Air
"Mad in Finland" Open Air

Das wohl erfolgreichste Ensembleprojekt mit Lotta und Stina ist „Mad in Finland“, eine Show mit sieben finnischen Artistinnen, die 2012 Premiere hatte. Es klingt wie eine Produktion, die Lotta und Stina auf den Leib geschneidert ist: Ihre Freundin Elice Abonce Muhonen von Galapiat Cirque trommelte die Artistinnen zusammen mit dem Ziel, für ihr Festival eine Show in der tollkühnen Probenzeit von einer Woche zusammenzustellen. „Sie sagte, wir könnten machen, was immer wir wollten, es war ein ziemliches Durcheinander“, erinnert sich Stina, „wir hatten kein Geld und keine größere Idee, als dass wir alle Finnen waren, die ins Ausland gingen, um Zirkus zu studieren.“ Die Kostüme nähten sie selbst aus allem, was sie in Second-Hand-Geschäften finden konnten.


Am Ende wurde die Show ein großer Erfolg – „aus der puren Energie von uns sieben verrückten Frauen heraus“, wie Stina anmerkt. Auch wenn es nur als einmalige Performance beim Festival geplant war, tourte die Show danach erfolgreich immer weiter. Und selbst nachdem Lotta und Stina 2018 aus dem Cast ausschieden, tourt „Mad in Finland“ noch heute. Was konnte schon schiefgehen?

 
 
 

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