
Welche Trends waren zu beobachten?
Nicht zu Unrecht könnte man das 47. Circusfestival von Monte-Carlo als Comeback der chinesischen Truppen bezeichnen. Blieben die Großdarbietungen aus dem Reich der Mitte in den vergangenen Jahren eher hinter den traditionell hohen Erwartungen zurück, so hatten sie diesmal einiges Spektakuläres zu bieten.
Allen voran die China National Acrobatic Troupe: Der Fahrrad-Act unter dem Namen „Windjäger“ vereint 14 Akrobaten in der Manege und gipfelt, nach diversen gekonnten Sprüngen und Pyramiden, im Lauf über die Rücken von 13 hintereinander auf dem Rad fahrenden Personen. Gerade hatten sie noch das Publikum von Flic Flac‘s X-Mas Show in Nürnberg begeistert, jetzt räumen sie völlig verdient Gold in Monte-Carlo ab.

In kleinerer Formation reiste die Zhejiang Acrobatic Troupe an. Das Antipodentrio lässt im Drei-Personen-Hoch bis zu fünf Schirme auf den Händen und Füßen des Obermanns balancieren und kreisen. Die Jury prämierte diese spektakuläre Erweiterung des Antipodengenres mit Silber.
Was war noch spektakulär?
Die fliegenden Menschen der Caballeros aus Mexiko hatten den spektakulärsten Trick zu bieten: den legendären vierfachen Salto. Einmalig in der Geschichte des Genres, beherrschen gleich drei Artisten der Truppe diesen Trick - und zeigen ihn zu wachsenden Begeisterungsstürmen im Chapiteau. Mit den drei Vierfachen zu langsam spannungsgeladener Musik endet die Nummer recht abrupt. Man hätte sich, der typischen Dramaturgie von Darbietungen am Fliegenden Trapez folgend, noch eine schön anzusehende Passage zum Abschluss gewünscht. So ist es mehr Einzelleistungsschau, die ist jedoch mehr als überzeugend und wird völlig zu Recht mit dem Goldenen Clown gewürdigt.

Der dritte Goldene ging an eine ebenso spektakuläre wie traditionelle Darbietung. Sieben Reiter und zwei Reiterinnen zählt die Dschigiten-Reitertruppe aus Turkmenistan. Zu treibenden folkloristischen Klängen zeigen sie alles, was die aus der kriegerischen Tradition stammende Form der Kunstreiterei zu bieten hat. Höhepunkt ist, wie ein Reiter unter den Torsos zweier parallel galoppierender Pferde hindurchtaucht, um sich danach wieder zum Stehendreiten auf den zwei Pferderücken aufzurichten.
Was war innovativ?
Wenn auch bereits von ihrer Teilnahme bei Cirque de Demain 2019 bekannt, haben die schwedischen Akrobaten der “Scandinavian Boards” für mich dennoch den Titel der innovativsten Nummer verdient. Die versetzte Anordnung dreier Schleuderbrette nutzen sie für Sprungstafetten von der Virtuosität einer Sinfonie. Anzahl (sechs) und Sicherheit der Akrobaten garantieren einen Flow, den eine genretypische Duo- oder Trionummer nicht erreichen kann. Optisch dem skandinavischen Minimalismus verpflichtet, hat diese Darbietung keinerlei Schnörkel. Ihre Schönheit liegt in der quasi geometrischen Stimmigkeit jedes Sprunges, mal parallel und mal über Kreuz, mal synchron und mal versetzt. Keine Bewegung ist nur Verzierung, jede unterstützt die Wirkung des Tricks. Großartig.

Einen anderen Ansatz wählte die Truppe von Erdene Nerguis „Mongolian Circus Production“, mit der der Circusproduzent seine Zusammenarbeit mit Dmitry Chernov im Kreieren immer neuer Gruppen-Acts fortsetze. Hier ist das Requisit außergewöhnlich, ein Mittelpostament, an dem zwei schleuderbrettartige Ausleger mit Gummibändern derart befestigt sind, dass das Zurückfedern die darauf springenden Artisten in die Höhe katapultiert. Was neuartig und komplex aussieht, wirkt in den Sprungabläufen jedoch eher gewöhnlich und erreicht bleibt technisch hinter dem “Schneller, höher, weiter”-Anspruch der anderen asiatischen Truppendarbietungen zurück. Doch bleibt die Entwicklung der Truppe interessant zu beobachten, traten die jungen Artisten doch in der Kategorie „New Generation“ an, in der sie Bronze gewannen.
In selbiger Kategorie, ebenfalls aus der Mongolei, kam die Truppe Bud-X Roses und gewann den Goldenen Junior. Hier besteht die Innovation in der Kombination aus Kontorsion und der Bewegung auf Hoverboards. Der Ablauf der Darbietung, mit neonfarbenen Kostümen ganz in blaues Licht gehüllt, war insgesamt etwas diffus, wenn auch von starker Leistung. Nicht ganz erschloss sich, warum im Hintergrund ein Akrobat permanent im Handstand auf einer Stütze balancierte – die an sich enorme Leistung geht entweder unter oder lenkt vom Kern der Darbietung ab. Das Empfinden für den achtjährigen Bud Chinguudin (damit jüngster des Festivals), der diesen Part zu übernehmen hatte, schwankte indes zwischen Bewunderung und Mitleid.
Was war zum Träumen?
Die perfekte Melange aus Anmut, Können und Risiko bietet das Duo Luna Girls am Luftring. Die von Marina Luna choreografierte und zusammen mit ihrer Partnerin Marika Ashley zusammen präsentierte Darbietung ist einfach ein Traum aus fließenden Bewegungen, die in immer außergewöhnlicheren Tricks münden – etwa wenn Marina, vertikal im Spagat, ihre Partnerin, ebenfalls im Spagat, nur am Fußgelenk hält.

Die Hermanos Acero bestechen in ihrer Partnerakrobatik durch pure Kraft. Mit ihren langsam-bedächtigen Bewegungen strahlen die beiden eine Ruhe aus, die einem bei schwersten Tricks – etwa dem Treppenstufenlauf Kopf-auf-Kopf hinunter und wieder hinauf den Atem stocken lässt. Für mich der stärkste Moment jedoch ist, wenn ein die Ruhe abrupt unterbrechender Sprung rückwärts sicher im Handstand auf den Händen des Partners gelandet wird.

Was war außergewöhnlich?
Eine willkommene Abwechslung zum stilistischen Einheitsbrei der zumeist südamerikanischen Hochseilnummern bietet „Triple Breath“ aus Usbekistan. Das aus zwei Männern und einer Frau bestehende Trio eröffnet seine Darbietung mit einem Lauf zu drei Personen hoch zu spannungsgeladenem Trommelwirbel – und zieht einen damit sogleich in seinen Bann. Es folgen außergewöhnliche Tricks wie Perche-Balancen beim Lauf über das Seil. Regisseurin der mit Abwechslungsreichtum und opulenter Aufmachung glänzenden Darbietung ist übrigens Kristina Vorobeva, die mit den Sky Angels bereits als Luftartistin Monte-Carlo-Ruhm erlangte.

Einzigartig ist sicher die Akrobatik a den Tüchern des aus Brasilien stammenden Alan Silva. Seine besonderes Physis als Kleinwüchsiger hält ihn nicht etwa von akrobatischen Höchstleistungen ab, sondern er nutzt sie im Gegenteil für außergewöhnliche Tricks voller purer Kraft.
Was war zum Lachen?
Südamerikanische Clownerie muss man mögen – oder eben auch nicht. So scheiden sich an Pastelito de Chile und Pastelito Junior sicher die Geister: die einen finden sie quirlig-charmant, die anderen hyperaktiv-diffus. Unbestritten sind sie akrobatische und musikalische Multitalente. Mir persönlich fehlen an ihrer Clownerie jedoch die leisen Töne sowie die kreativen Handlungsbögen.

Eher meinem Geschmack entsprechend ist die mit allerhand artistischen Einlagen angereicherte Verbal-Comedy vom amerikanisch-schweizerischen Duo Full House, bestehend aus Gaby Schmutz und Henry Camus, die auch im echten Leben ein Ehepaar sind. Von Roncalli (Osnabrück) zu Monte-Carlo mussten sie ihre Reprisen auf Französisch umstellen, doch nach eigener Angabe beherrschen sie ihre Acts auf ungefähr sechseinhalb Sprachen. Während die Pastelito-Clowns Silber bekamen, gingen sie leer aus – Geschmäcker sind in Sachen Clownerie eben sehr verschieden.
Wer waren die Newcomer?
Neben den bereits erwähnten Truppendarbietungen waren Kategorie „New Generation“ das Trio Balkanski aus Bulgarien und Dmitro Onyshchenko aus der Ukraine erfolgreich – beide Nummer olten den silbernen Junior. Das Trio Balkanski präsentiert in wechselnden Formationen von einem Jungen und zwei Mädchen nicht weniger als das gesamte typische Trickrepertoire eines Rollschuhacts – aber eben auch nicht mehr. Dmitro Onyshchenko jongliert, noch sehr kindlich wirkend, bis zu sieben Bälle, während er im Spagat an den Strapaten ist.

Was sieht man immer wieder gerne?
Sie haben, seit sie sich 2011 an der Circusschule in Montréal getroffen und gemeinsam ihre Darbietung und damit das Genre des Cyr-Wheel-Duos kreiert hatten, schon Preise bei diversen Festivals gewonnen: Lea Toran Jenner (Deutsch-Spanierin) und Francis Perreault (Kanadier) sind zusammen das Duo Unity. Ihr Spiel von Annäherung und Distanz, von Romantik und Dynamik, hat sicherlich diverse Acts der letzten Jahre beeinflusst und ist ein perfektes Beispiel, wie eine moderne Darbietung in einem traditionellen Circus-Setting „funktionieren“ kann.

Ein Act, der in Erinnerung bleibt, ist auch die Kombination aus Hula-Hoop und dem schwankenden Mast, die der inzwischen schon 60-jährige Franzose Julot Cousins mit jung-gebliebenem Charme präsentiert. Mit sympathischer Nonchalance und schauspielerischem Talent führt er durch eine kleine Story, die ihn auf den neun Meter hohen Mast führt und ihn dort Hula-Hoop-Reifen kreisen lässt, bis er wieder sicheren Boden unter den Füßen hat.
Zwar wesentlich jünger, aber von diversen Festivalteilnahmen (Gold beim EYC Wiesbaden 2018) bekannt ist der Jongleur Zdenek Polach. Virtuos jongliert er mit bis zu sieben großen Bällen, in Monte-Carlo eigens mit neuer Musik und neuem Kostüm. Er war zuvor in der Flic Flac Show in Nürnberg zu sehen, wo er zudem technischer Direktor ist und das Event mit seiner Frau Larissa Kastein leitet.
Und was ist mit den Tieren?
Monte-Carlo stet seit je her auch für außergewöhnliche Tierdarbietung – ja ist heute geradezu das Refugium für solche Darbietungen, die immer schwerer zu finden sind. So suchte man diesmal vergeblich Raubtiere und Prinzessin Stephanies Lieblingstier, der Elefant, war lediglich als Einzeltier und Teil des großen Exotentableaus der Familie Martini vom italienischen Circo Madagascar zu erleben. Letzteres bot dafür auch noch seltenere Tiere wie eine Giraffe und zwei Kängurus. Die Nummer wirkt besonders durch die große Aufmachung mit exotischen Tanzintermezzi in opulenten Kostümen. Die Dressurleistung wäre in früheren Tagen vermutlich nicht Monte-Carlo-reif gewesen.

Das gegenteilige Bild – simple Retro-Aufmachung, nichts Exotisches, dafür interessante Dressurelemente – bot die rasante Hundedarbietung von Wolfgang Lauenburger. Er erhielt dafür Bronze, die Martini-Familie für die Gesamtleistung, einen heute beispiellosen Tierreichtum in der Manege zu vereinen, Silber.
Neben den im Artikel genannten waren noch folgende Darbietungen im Festival:
Troupe Baobab - Handvoltigen, Alexander Lichner - Trapez, Tulga - Kraftakrobatik, Steven & Emi Carroli - EInradakrobatik
Sehr gelungener Beitrag. Danke