
Möchte man einen Überblick über die Stile und Tendenzen des Zirkus unserer Zeit erlangen, dann hilft es, zwischen Ästhetik und Format zu differenzieren. In der Debatte um Zirkusgenres wird beides oft vermischt. Wir betrachten durchgehend inszenierte Shows, die den einzelnen Act aufbrechen oder zumindest einem dominierenden Narrativ unterordnen, und nennen sie “zeitgenössisch” oder “neu”. Und dann sehen wir Shows bestehend aus Acts, die in sich konsistent und abgeschlossen sind, doch höchstens in losem Zusammenhang mit der Show als ganzer stehen, und nennen sie “klassisch” oder “traditionell”. In dieser simplen Zweiteilung der Zirkuswelt neigen wir dazu, den Fokus auf das Format zu legen und darüber die viel größere Vielfalt in der Ästhetik zu übersehen.
Beim 44. Festival Mondial du Cirque de Demain sahen wir nicht bloß “klassisch” und “neu”. Wir sahen den modernen ukrainischen Avantgarde-Stil eines Inshi-Kollektivs. Wir sahen die experimentierfreudig-frische Interpretation von Gruppendisziplinen durch die kanadische Company Machine de Cirque. Wir sahen Darbietungen, die Geschichten erzählen, sei es plakativ-opulent im chinesischen Stil der Truppe aus Guangzhou oder subtil-reduziert im Stil der kanadischen Schulen. All diese Zirkusästhetiken und noch viele mehr kann man nirgends so gut erfassen und vergleichen wie in Paris - gerade weil sie sich hier alle in ein gleiches Format einzufügen haben. Alles muss in einen ca. achtminütigen Act passen, der jeweils abschließende Jingle vom grandiosen Orchester unter der Leitung von François Morel ist quasi Musik gewordene Vergewisserung, dass es am Ende allen um die Gunst des Publikums geht. Diese Mischung aus Standardisierung und Offenheit für Vielfalt ist es, die Paris so einzigartig und interessant macht und regelmäßig Agenten, Direktoren und Zirkusliebhaber aus der ganzen Welt anzieht.
Sicher wird das Format nicht jeder Darbietung vollends gerecht. So hätte man etwa bei der Vertikalseilnummer des Inshi-Artisten Maksym Vakhnytskyi gerne den Kontext der Inszenierung mit einer Atemmaske am Seilende verstanden. Insgesamt waren im Vergleich zu manchem Vorjahr jedoch erstaunlich viele Nummern zu sehen, die man sich ohne weiteres direkt auch in einem kommerziellen Nummernprogramm vorstellen kann.
Zu einem der Vorjahre gab es gleich mehrere Déjà-vus. Genau wie 2020 schied eine aussichtsreiche Formation verletzungsbedingt aus dem Rennen um die Preise aus, wieder waren es Kanadier. Traf es 2020 das Barren-Trio Tribarre, war es diesmal Machine de Cirque mit ihrer innovativen, aus ihrer Show „Ghost Light“ entnommenen Darbietung auf dem rotierenden Schleuderbrett. Einer der Flieger landete unsanft, brach sich den Fuß und rief uns das gerade dieser Disziplin immer innewohnende Risiko ins Bewusstsein. So trat Machine de Cirque im verbleibenden Festival lediglich mit dem Opening auf, in dessen Mittelpunkt der Russische Barren stand. Den nutzte die Gruppe auf sehr kreative Weise, etwa beim Sprung vom Barren zum Drei-Personen-Hoch.

Noch eine Parallele zu 2020: Wieder ging der prestigeträchtige Grand Prix an die chinesische Truppe aus Guangzhou. Xie Zongbin und Zhan Jiyai erhielten den Preis für eine virtuose Kombination aus Partnerakrobatik und Antipoden. Ob im Einarmer auf dem Nacken des im Handstand stehenden Untermanns oder im Fußspitzenstand auf dem Kopf desselben – fortwährend kreist ein roter Teppich auf Jiyai Zhans Hand oder Fuß. Tangorhythmen und kokette Präsentation lassen dabei so gar nicht an den Pathos alter chinesischer Schule denken. Bei der Cyr-Rad-Nummer von Chen Tao aus derselben Truppe ist das schon eher der Fall. Die martialische Aufmachung seiner Darbietung, die einen Kampf mit einem brüllenden Löwen darstellen soll, driftet etwas ins Groteske ab, wenn auch die Tricks überaus stark sind.
Die Goldmedaille wurde in diesem Jahr zweimal vergeben. Das erste Gold ging a die sechs Artisten der dänischen Truppe Motus für ihre Performance X-Board an zwei über Kreuz angeordneten Schleuderbrettern. Hinter den anspruchsvollen Trickfolgen, u.a. mit synchron ausgeführten dreifachen Salti und sicher auf dem Brett gelandeten doppelten Salti mit Schraube, verbirgt sich die Beschäftigung mit gegenseitigem Vertrauen.

Das zweite Gold ging nach Tansania, genauer an die „Hakuna Matata Acrobats“ von der vom Impressario Winston Ruddle (in Deutschland durch „Mother Africa“ bekannt) gegründeten nationalen Zirkusschule. In ihrer vor Energie strotzenden Gruppendarbietung mischen sich Elemente traditioneller afrikanischer menschlicher Pyramiden und Partnerakrobatik mit Rolo-Rola-Artistik. Ein Höhepunkt ist ein Kopf-auf-Kopf beim Balancieren auf der Rola-Rola, während weitere Akrobaten durch die Beine des Untermanns hindurch springen. Viele Wow-Momente, kaum Zeit zum Durchatmen, kaum eine erkennbare Dramaturgie – insgesamt fällt auf, dass die Jury in diesem Jahr außergewöhnliche akrobatische Leistung und Tricks stärker honoriert hat als tiefgründige Inszenierungen und Konzeptnummern.

Das gilt auch für die Silbergewinner Danil Lysenko und Delaney Bayles. Doch ist deren Partnerjonglage dermaßen mit originellen, nie zuvor gesehenen Tricks gespickt, dass man vor lauter Staunen gar keinen „tieferen Sinn“ sucht. Da wird eine Keule im Vorbeigehen nonchalant auf dem Kopf der jonglierenden Delaney abgestellt und bleibt einfach stehen, um kurz darauf in einer beiläufigen Bewegung angestupst zu werden und sicher in den Händen des weiterjonglierenden Danil zu landen. So geht Coolness - hier ist die permanente Überraschung die Dramaturgie. Während der Ukrainer Danil Lysenko von diversen Zirkusengagements, etwa Roncalli, bekannt ist, stammt die Amerikanerin Delaney Bales aus der Jonglage-Convention-Szene und hatte bislang nur 2022 als Jonglierpartnerin von Mario Muntwyler im Schweizer Circus Monti ein kurzes Zirkusintermezzo gegeben. Den Act hatten die beiden Ausnahmejongleure speziell für Paris kreiert.

Die beiden weiteren Silbermedaillen gingen nach Fernost – zum einen an das japanische Duo „Toy Toy Toy“ für ihr perfekt auf die Musik wie auch aufeinander abgestimmtes Spiel mit den JoJos, zum anderen an das Diabolo-Trio Fly aus Taiwan. Letzteres wurde zusammengestellt vom Goldmedaillengewinner von 2017, Chih-Han Chao, der seither den Ruf Taiwans als Hot-Spot der Diabolo-Artistik festigt. „Toy Toy Toy“ hebt das Genre mit einer Choreografie fließender Bewegungen abermals auf ein neues Level.

Fließende Bewegungen – die charakterisieren auch den bronze-prämierten Act „MARoma“ von Micaela Leitner und Matias Cienfuegos, die zusammen das Duo Sirca Marea bilden. Sie interpretieren die Arbeit am Fangstuhl als Metapher für das Eintauchen ins Meer. Und tatsächlich mag man an das Befreiende eines Sprungs in das Meer denken, wenn Micaela zum Sprung ansetzt, um von Matias nach einer halben Pirouette an den Fußgelenken gefangen zu werden - oder an die Geschmeidigkeit der Bewegung unter Wasser, wenn sie Salti und Drehungen voller Leichtigkeit ausführt.
Bronze erhielten ebenso zwei der einfallsreichsten Darbietungen des Festivals. Da ist einerseits Nicolas Teusa aus Kolumbien, der in seinem Act das Ringspringen völlig neu interpretiert, indem sein Ring an einem quasi unsichtbaren Faden aufgehängt Pendelbewegungen ausführt und mit dabei mit seinen eigenen, vom zeitgenössischen Tanz inspirierten Bewegungen kommuniziert. Und da ist andererseits der Argentinier Franco Pelizzari del Valle mit seinem akrobatischen Slapstick-Theater DESPLIEGUE rund um eine Mikrowelle, drei Klappstühle und einen Klapptisch. In seiner kleinen Geschichte vom Scheitern stellt er das ur-clowneske Motiv vom Kampf mit der Tücke es Objekts auf eine frische Art dar.

Einen Platz in der Gala sicherten sich auch die drei Preisträger der Jury-Spezialpreise. Zu den in diesem Festival etwas unterrepräsentierten echten Newcomern zählten Malou Latrompette und Alizé Poitreau aus dem Abschlussjahrgang der Zirkusschule von Montreal 2024. An zwei nebeneinander hängenden Schwungtrapezen kommunizieren sie förmlich miteinander; mal einzeln, mal gleichzeitig führen sie ihre Tricks aus, gipfelnd in einem völlig synchron ausgeführten Salto.
Ebenfalls aus Kanada stammen Agathe und Adrien, Ko-Gründer der Company „Acting for Climate“ und Absolventen der Zirkusschule Quebec. Ihr Hand-auf-Hand Act stellt die gängigen Codes des Genres in Frage. Die Rollen von Ober- und Unterperson wechseln ständig, Elemente ikarischer Spiele fließen ein. Ihre Forschung, was Hand-auf-Hand sein kann, resultierte in der international erfolgreichen Show „N.Ormes“, für Paris hatten sie nun einen neuen Act kreiert.
Die Kombination von Partnerakrobatik mit anderen Genres ist ein Trend, der an diesem Festival abzulesen ist. Sie macht, zusammen mit einer Prise Selbstironie, auch den Reiz der Einraddarbietung des brasilianischen Duos Cata und Jay aus. Akrobatische Höhepunkte ihres Acts sind Handstände auf dem Einrad fahrenden Untermann sowie der Stand auf dessen Kopf. Ein ähnliches Repertoire, jedoch auf dem Monowheel, zeigt die Formation „Les Acrostiches“, die als Special Guests in beiden Auswahlshows auftraten. Eine geringere Dosierung der sich untereinander doch ähnelnden akrobatisch-komischen Reprisen hätte den Shows indes gutgetan.
Was gibt es an diesem abermals hochkarätig besetzten und mit überraschenden Entdeckungen gespickten Festivalprogramm überhaupt auszusetzen? Nun, neben dem schon erwähnten Mangel an jungen Nachwuchsdarbietungen war auch ein gewisser Mangel an weiblichen Akteuren festzustellen. So war keine einzige Soloartistin im Teilnehmerfeld und insgesamt die männlichen Artisten in deutlicher Überzahl. Hier hätte mehr Ausgewogenheit dem Festival gut zu Gesicht gestanden.
Es bleibt der positive Eindruck, dass die Zirkuswelt, die sich hier versammelt hat, viel zu abwechslungsreich, überraschend und vielfältig ist, um sich in wenige Schubladen stecken zu lassen. Wenn wir hier den Zirkus von Morgen sahen, dann müssen wir uns um seine Zukunft jedenfalls keine Sorgen machen.
Neben den im Text erwähnten waren noch die folgenden Darbietungen im Festival vertreten:
Ess Hödlmoser (Kanada) - Strapaten, Sergey & Vlad (Ukraine) – doppelter Flying Pole, Marceau Bidal (Frankreich) – asymmetrische Strapaten, David Trappes & Skip Walker-Milne (Australien) – Perche, David Yemishian (Ukraine) – Jonglage
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