Die Anatomie eines Zirkus-Acts
- Daniel Burow
- 24. März
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. März

Aus Produktionssicht ist ein typischer Zirkus-Act eine wunderbare Sache. Er ist ein in der Regel vier- bis achtminütiges Stück Zirkuskunst, in sich abgeschlossen und in diversen Showkontexten wiederzuverwenden. Der Produktionsaufwand – Konzept, Zusammenstellen der Trickfolge, Choreografie – fließt einmal hinein und amortisiert sich über viele Jahre, vielleicht gar über eine gesamte Artistenkarriere. Der Act wird dabei immer ausgereifter und im Idealfall entstehen große Nummern, die als solche, unabhängig von den Shows, in denen sie engagiert sind, Weltruhm erlangen. Manchmal entstehen auch solche, die ein ganzes Genre prägen oder eine Artistengeneration in ihrem Schaffen beeinflussen. Wir denken etwa an Anatoli Zalewski und seine poetisch-minimalistische Handstandartistik oder an das Duo Mouvance mit seinem feurigen Trapez-Tango.
Wenn man heute manchmal vernimmt, es gäbe „kaum noch Stars im Zirkus“, dann sind solche Acts gemeint, die sich ins Gedächtnis einbrennen. Warum scheinen sie eine aussterbende Art zu sein? Nun, einerseits spielt sicher eine Rolle, dass die Zirkusbranche heute weit weniger nach solchen Stars sucht. „The Show is the Star“ – mit diesem Slogan bringt der Cirque du Soleil seine Philosophie auf den Punkt, wonach die Artisten eher austauschbare Akteure in einem Gesamtkunstwerk, der Showkreation, sind. Cirque du Soleil treibt diesen Ansatz zum Äußersten, doch auch in anderen Teilen der Zirkuswelt lässt sich ein Trend ablesen. Um ein Stammpublikum an sich zu binden, müssen Zirkusunternehmen einen eigenen, unverwechselbaren Stil pflegen. Auch Shows, die an sich aus Einzelacts bestehen, folgen immer mehr einem Gesamtkonzept, einer Inszenierung, die zum Stil des Hauses passt. Ein Roncalli oder ein Flic-Flac etwa lässt kaum eine Nummer in Musik und Kostüm unverändert. Der Act wird eher als Rohmasse gesehen, der zum Konzept der Show passend gemacht wird. Dabei bleiben weite Teile des Kreationsprozesses weiterhin „outgesourct“, indem Acts angepasst und integriert werden, anstatt bei Null zu beginnen. Dies ist ein Erfolgsrezept, wenn nicht gar eine Notwendigkeit kommerzieller Shows, die in kurzen Produktionszeiten entstehen müssen.
Diese Produktionsweise im sogenannten klassischen Zirkus verleitet nun manchen dazu, ihn von einem (zeitgenössischen) „Kreationszirkus“ abzugrenzen, ihm also das Potenzial abzusprechen, künstlerisch Hochwertiges zu kreieren. Dabei wird übersehen, wie viel Kreationsaufwand in einem hochwertigen Act stecken kann: Lange Jahre Arbeit an den technischen Grundlagen der Disziplin, Entwickeln eines Konzepts und einer Dramaturgie, Kreieren des Kostüms, Auswahl oder gar Komposition der Musik, Transkribieren der Musik für ein Orchester, Entwerfen eines Lichtkonzepts. Bei großen Darbietungen sind nicht selten ganze Kreationsteams in diesen Prozess involviert.
Die Australierin Jasmine Straga kennt beide Perspektiven – die der Artistin und die der Produzentin – aus vielen Jahren eigener Erfahrung. Sie trat als Kontorsionistin und Luftakrobatin auf, bevor sie sich inzwischen mit „J. S. Creations“ der Aufgabe verschrieb, junge Artisten mit Konzeption, Produktion und Regie von Acts bis an die Spitze der Zirkuswelt zu begleiten. Seither kann sie diverse Festivalerfolge und Engagements ihrer Darbietungen in namhaften Produktionen vorweisen. Was macht für Jasmine einen guten Zirkusact aus?

Was macht eine gute Zirkusnummer aus?
Jasmine Straga: Bei einer großartigen Zirkusnummer geht es nicht nur um Können, sondern darum, das Publikum, wenn auch nur für einen Moment, in eine andere Welt zu entführen, weg von seinen Sorgen und hinein in eine Welt voller Wunder. Ob Ehrfurcht, Freude, Angst, Trauer oder Wut – ein gelungener Act sollte Emotionen wecken und einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Für mich ist das der wahre Erfolg eines Künstlers. Natürlich kann die Definition einer starken Nummer variieren, je nachdem, ob sie klassischer Tradition oder zeitgenössischem Storytelling entspringt. Struktur, Tempo und Ästhetik mögen unterschiedlich sein, doch im Kern bleibt unser Ziel dasselbe: zu verbinden, zu fesseln und ein Erlebnis zu schaffen, das noch lange nach dem Fallen des Vorhangs nachklingt.
Wie gelingt es, eine Dramaturgie oder gar eine Geschichte in eine kurze Nummer zu integrieren?
Jasmine Straga: Ich wende nicht für jeden Künstler die gleiche Methode an, da jeder Künstler einen einzigartigen Weg geht, aber es gibt typische Zutaten, die ich gerne verwende. Dramaturgie oder Storytelling in eine kurze Zirkusnummer zu integrieren, beginnt für mich damit, den Künstler hinter der Performance zu verstehen. Bevor ich mit der Kreation einer Nummer beginne, nehme ich mir Zeit, mit den Künstlern in Kontakt zu treten und ihre Erfahrungen, Emotionen und die Geschichten kennenzulernen, die sie erzählen möchten. Authentizität ist entscheidend. Wenn sich eine Nummer authentisch anfühlt, fühlt sich der Künstler damit verbunden, und das Publikum wird sich ganz natürlich darauf einlassen.
Bevor ich mit der Kreation beginne, denke ich darüber nach, was die Leute fühlen sollen. Welche Emotionen und Themen gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die Nummer denken? Eine klare Vision verleiht der Performance Tiefe und Sinnhaftigkeit und macht sie weniger zu einer bloßen Zurschaustellung von Können. Wir erstellen oft Alben auf Pinterest mit Kostüm-, Bewegungs- oder anderen Ideen, die uns inspirieren. Meistens kommen diese Ideen nicht aus dem Zirkus, sondern können aus der Natur, anderen Genres oder einfach aus allem stammen.
Sobald diese Vision klar ist, gestalten wir die Nummer unter Berücksichtigung von Struktur, Tempo und Bewegungsqualität. Tricks und Fertigkeiten sollten der Story dienen und nicht nur des Schwierigkeitsgrades wegen eingesetzt werden. Die Art und Weise, wie ein Künstler zwischen Bewegungen wechselt, die Tempowechsel und sogar der Einsatz von Stille – all das trägt zu einer fesselnden Geschichte bei. Eine gut getimte Pause kann Spannung erzeugen, während ein Ausbruch schneller Bewegungen die Spannung steigern kann. Ausdruck geht über große Gesten hinaus und lebt auch in den kleinsten Details, von der Fingerbewegung bis zur Intensität des Blickkontakts. Jedes Element, von Kraft und Gleichgewicht über Flexibilität bis hin zum physischen Theater, trägt zur emotionalen und visuellen Wirkung der Nummer bei.
Durch die Verbindung von Technik und Storytelling macht der Künstler seine Performance zu etwas wirklich Faszinierendem. Es sollte ein Erlebnis sein, das das Publikum auf menschlicher Ebene berührt. Viele denken, zeitgenössische und klassische Dramaturgie seien so unterschiedlich. Ich persönlich nutze für beide Genres die gleichen Methoden der Act-Kreation und finde Wege, das Storytelling in einen klassischen Act einzubringen.
Ein Beispiel dafür ist ein Act, den ich mit Jack Dawson kreiert habe: „Phoenix“. Für das Publikum mag es ein klassischer Act sein, doch die Dramaturgie basiert auf dem eigenen Weg meines Schülers, der nach einem schweren Trauma als Teenager seine Identität neu definierte und darin Stärke fand. Das Kreation eines Acts ist eine Reise der Selbstfindung, und sowohl der Entstehungsprozess als auch die Aufführung können helfen, Wunden zu heilen.

Was macht eine Zirkus-Act auf internationalen Festivals erfolgreich?
Jasmine Straga: Der Erfolg bei wettbewerbsorientierten Zirkusfestivals beruht auf der Balance zwischen Kreativität, technischer Meisterhaftigkeit und Innovation. Ähnlich wie bei den Olympischen Spielen bringen diese Festivals Top-Artisten aus aller Welt zusammen, die anhand eines strukturierten Bewertungssystems beurteilt werden. Die Nummern werden typischerweise sowohl nach kreativen Elementen – wie Choreografie, Stil, Artistik, Kostümen, Requisitendesign und Ästhetik – als auch nach technischem Können und Ausführung bewertet, wobei Schwierigkeitsgrad und Originalität der Darbietungen berücksichtigt werden.
Die Bewertungssysteme variieren. Viele Festivals verwenden mittlerweile eine 10-Punkte-Skala für Kreativität und technische Leistung mit einer Gesamtpunktzahl von 20 Punkten. Einige vergeben sogar zusätzliche Punkte speziell für Innovation und belohnen so diejenigen, die frische, bahnbrechende Ideen auf die Bühne bringen. Jede Nummer wird individuell bewertet, und die Rangliste wird erst erstellt, wenn alle Bewertungen feststehen. In der Regel werden die Artisten in zwei Shows bewertet, wodurch sie einen zweiten Versuch haben, ihre Nummer zu perfektionieren und eine höhere Punktzahl zu erreichen.
Die wahre Herausforderung besteht nicht darin, andere zu übertreffen, sondern die eigene Darbietung zu verfeinern und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Mir persönlich ist es ziemlich egal, ob wir einen Preis nicht gewinnen – das wichtigste Ziel ist es, von möglichst vielen Bookern gleichzeitig gesehen zu werden. Neben den Bewertungen bieten diese Festivals auch wertvolle Networking-Möglichkeiten. Die Jury besteht oft aus führenden Zirkusdirektoren, Produzenten und Agenten, was sie zu einer der effektivsten Möglichkeiten macht, Branchenbekanntheit zu erlangen und zukünftige Verträge zu sichern. Ein Erfolg oder auch nur ein guter Eindruck kann die Marktnachfrage eines Künstlers deutlich steigern, da Booker um herausragende Acts konkurrieren.
Während manche zeitgenössische Künstler zögern, an wettbewerbsorientierten Festivals teilzunehmen, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass jedes Vorsprechen oder jede Vertragsbewerbung im Grunde ein Wettbewerb ist. Der Unterschied besteht darin, dass Sie live auftreten, sodass Booker Ihren Auftritt persönlich erleben und durch das persönliche Treffen eine direkte Verbindung zu Ihnen aufbauen können. Diese Festivals sind nicht nur ein Wettbewerb, sondern eine Bühne, auf der ein ausgefeilter, emotional fesselnder und technisch beeindruckender Auftritt Türen zu großen Chancen öffnen kann.

Laut Jasmine steckt hinter jeder Nummer eine bestimmte Fähigkeitsstruktur. Die Arbeit an jeder dieser Fähigkeiten kann die Variation verbessern:
Balancefähigkeiten (z. B. einbeiniger Hang an einem Luftring).
Akrobatische Fähigkeiten (z. B. Saltos oder Drehungen).
Flexibilitätsfähigkeiten (z. B. Mexikanischer Handstand, Spagat).
Kraftfähigkeiten (z. B. Planches und Fähigkeiten, bei denen der Künstler sein Körpergewicht halten und ausbalancieren muss).
Dies ist der technische Aspekt. Um die Fähigkeit in ein Kunstwerk zu verwandeln, ist künstlerischer Ausdruck und eine klare künstlerische Vision entscheidend. Dieses hohe Maß an Komplexität und Aufwand wird oft vergessen - auch weil so mancher Artist es gern selbst vergisst. Dann entstehen uninspirierte Trickabfolgen, die mehr an die Kür eines Sportlers als an ein originäres und durchdachtes künstlerisches Werk denken lassen.
Drohen die "großen Acts" nun mit den "großen Stars" der Zirkuswelt auszusterben? Davon ist nicht auszugehen, denn auch wenn Artisten vielerorts weniger als Stars vermarktet werden, bleiben die Auswahlkriterien der namhaften Produktionen doch die gleichen. Wer in der Lage ist, einen eigenen Act zu entwickeln und zum Erfolg vor Publikum und Fachjurys zu bringen, der demonstriert auch sein Potenzial, als Artist und Persönlichkeit in anderen Produktionen zu glänzen. So wird es sie immer geben, die glänzenden Sterne am Zirkushimmel. Und auch die Voraussetzungen für einen Weltklasse-Act bleiben die gleichen: Talent, Kreativität, Originalität und viel harte Arbeit.
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